Gerald Ganglbauer

Ich bin ein Grazer

Der Autor Peter Glaser sagt von sich, er sei “geboren [worden] als Bleistift in Graz (Österreich), wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden” – und lebt “als Schreibmaschine” in Berlin. Bezeichnend. Andere Grazer (Steirer) leben auch in Deutschland oder sonstwo in der Welt, oder am Land, oder zumindest in Graz und Wien. Und wer einmal ganz in der Bundeshauptstadt lebt, will von Graz gar nichts mehr wissen.

Graz ist eine kleine Stadt in Europa. Das muss man vorweg sagen, denn das weiß fast niemand. Graz liegt nämlich nicht am Weg von Strauß zu Mozart. Aber Graz hat sich schon immer bemüht, das zu ändern. Graz ist auch die Landeshauptstadt der Steiermark. Styria heißt das auf Englisch, das ist ein Bundesland im Südosten, aber nicht das wo sie The Sound of Music gefilmt haben. Ah, … kommt nicht der Schwarzenegger von dort?

Ich bin ein gebürtiger Grazer, dennoch antworte ich normalerweise jedem der mich nach der Herkunft fragt, dass ich vor meinem Aufbruch aus Europa (einige Jahre lang) in Wien gelebt habe. Was zwar auch stimmt, aber es ist viel leichter zu erklären als “ich bin ein Grazer”. Jeder weiß dann sofort, dass ich aus Österreich komme – sofern man Wien = Vienna nicht gerade mit Venedig = Venice verwechselt, oder gar Austria mit Australia, im weiten Amerika.

Na ja, ein jeder hat andere Gründe, Graz zu verlassen. Auch wenn einer meiner Verlagssitze virtuell immer noch in Graz ist, bin ich in den letzten fünfzehn, fast schon zwanzig Jahren nicht gerade oft nach Hause zurückgekommen, außer um meine Mutter zu besuchen und eine Handvoll Freunde zu sehen. Vielleicht werde ich, wenn ich alt bin, wieder in Graz leben. Graz eignet sich ja gut als Lebensort für Pensionisten, heißt es. Obwohl ich mir eigentlich eine kleine Insel vorgestellt hätte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dabei war ich in dieser Stadt einmal recht präsent, habe 1982 bis 1986 die Grazer Straßenliteraturtage (ein Festival junger Literatur) initiiert und organisiert, zahlreiche Lesungen im Kulturhauskeller und in der Thalia veranstaltet, ein Buchdenkmal am Hauptplatz errichtet und in riesengroßen Lettern darin Gedichte in den öffentlichen Raum gestellt, und war damals, nicht zuletzt, auch mit der Autorin Petra Ganglbauer verheiratet.

Warum flohen aber immer wieder KünstlerInnen diese Stadt, die 2003 erst ihr eigenes Literaturhaus eröffnet hat? Gerhard Melzer sagt über sein literatur h aus graz: “Ein neuer Ort für die Literatur. In einer Stadt, wo sie ohnehin ihren Platz hat. (Auch wenn sie ihn immer wieder neu erkämpfen muss).” Aber Helmut Schranz (mein Nachfolger in der perspektive Redaktion und ein Autor, den ich schätze) kommt zur Ansicht, “graz hat alte leute, die alte texte schreiben, und graz hat junge leute, die auch – alte texte schreiben”, und ärgert sich über Reinhard P. Gruber.

Graz hat eine hübsche Altstadt. Aufzuwachsen und zu studieren hat in dieser kleinen Stadt auch großen Spaß gemacht. Mit dem Moped an die Murauen fahren und Kukuruz (Mais) stehlen und braten. Oder an die damals noch ungenützten Schotterteiche (Baggerseen) zum Nacktbaden. In den Kaffeehäusern nach den Vorlesungen an der TU oder Uni stundenlang abhängen. Nachts bis zum Morgengrauen auf die Platte (einen der Hausberge) wandern, und über Kernkraftwerke diskutieren. Und immer guten Sex haben.

Daran erinnere ich mich gerne (und damit meine ich selbstverständlich nicht nur die erotischen Abenteuer) – dennoch sind die Herausforderungen einer Kleinstadt, wenn auch mit steirischem herbst und Forum Stadtpark, oder Zeitschriften wie manuskripte, LICHTUNGEN, perspektive und Sterz um Kultur bemüht, naturgemäß begrenzt. Und naturgemäß spießig. Und man verlässt die Stadt. Nicht einmal die GAV Grazer Autorinnen Autoren Versammlung hat ihren Sitz noch in Graz.

Erinnern wir uns – gangan [althochdeutsch]: bewegen, entwickeln, verändern. Moving on.

Die Grazer Literatur war völlig aus meinem Sinn – dass die Stadt Kulturhauptstadt Europas 2003 ist, interessiert eigentlich nur die Fremdenverkehrsbüros, und aus Graz kamen in den letzten Jahren kaum nennenswerte unverlangte Beiträge an unsere Zeitschrift – plötzlich flattert im März dieses Jahres ein erfreulicher Text vom Helmut Schranz herein. Aufmüpfig. Frisch. Da identifiziert man sich damit, das denkt man sich auch. Und ich sage einer Veröffentlichung zu, woraus gar diese Sondernummer wächst. Ich fliege sowieso im Juni zum 93. Geburtstag meiner Mutter nach Graz.

Ich mache mich also auf die Suche nach Grazer AutorInnen, sende allen per E-mail Einladungen Beiträge betreffend. Unterhalte mich mit SpezialistInnen – guten BuchhändlerInnen, SprachwissenschafterInnen (bemerke gerade, wie nervig diese neue ‘politisch korrekte’ Version der -Innen im deutschen Sprachgebrauch ist, ganz im Gegensatz zu hier, wo alle weiblichen Endungen verschwinden, die Begriffe selbst geschlechtsneutral werden) – und finde – nicht viel. Österreichische AutorInnen in Übersetzung kenne man zwar schon einige; aber aus Graz? Sorry.

Auch die Reaktion einzelner eingeladener AutorInnen war eine ganz andere als zum Beispiel die Begeisterung im Hinblick auf unsere Newcastle-Sondernummer vor einem halben Jahr. Eine typische Frage: “Wird die Zeitung in echt erscheinen oder nur im Netz?” – “Gangway erscheint in echt am Netz.” – “in echt am Netz ist aber nicht logisch …” Hmmm. Also auch in der Akzeptanz des nicht mehr so ‘neuen’ Mediums ziehen noch die Nebelschwaden durch die steirische Landschaft. Gangway erscheint bereits im achten Jahrgang, quasi seit dem Jahre Null am WWW, und Urheberrechte der AutorInnen sind trotz hartnäckiger Gerüchte ebenso geschützt wie in anderen Medien.

Wenn unter Grazern vom Internet die Rede ist, wird oft geklagt, dies sei ja bloß eine “Teilöffentlichkeit”, die “richtige” Öffentlichkeit wäre erst auf Papier zu erreichen. Falsch, meine Damen und Herren. Es hat zwar nicht jeder einen Computer, aber andererseits kann auch nicht jeder lesen – oder kauft sich die Kronen Zeitung. Und obwohl Webmeister ihre Zugriffsstatistiken gerne ins günstigste Licht stellen, lesen in Wahrheit am Bildschirm auch nicht mehr Leute Literaturzeitschriften als auf Papier, bloß der Vertrieb ist ein ganz anderer. In print oder online – eine Zeitschrift bleibt eine Zeitschrift.

Und als solche kann die zweisprachige Gangway bereits auf stolze Erfolge verweisen. Ian Kennedy Williams ist von Penguin Books durch unsere Erstveröffentlichung eines Romankapitels entdeckt worden, Ingeborg Bachmann wird nach einer bei uns veröffentlichten Übersetzung Angelika Fremds von Mark-Anthony Turnage in London vertont, und Ruark Lewis wird im kommenden Sommer in der liteaturWERKstatt berlin aufgeführt, um nur drei Beispiele zu nennen. Es ist für unsere AutorInnen keinesfalls von Nachteil, “nur im Netz” veröffentlicht zu sein.

Soweit zur Relativierung des in meiner Jugend noch für die große weite Welt gehaltenen Grazer Literaturbetriebes. Aber wie auch immer, hier ist nun nachzulesen, was in kurzer Zeit an Literatur um, aus und über diese kleine Stadt namens Graz zu sammeln war, in deren “Kulturjahr”. Es wird noch viel Wasser unter der Murbrücke (und um die neue Murinsel) fließen, bis sich so eine Gelegenheit der internationalen Vernetzung mit der Neuen Welt für die wohl heimlichste aller Literaturhauptstädte wieder ergibt. Dass ich diese Sondernummer trotz des entgegen gebrachten Widerstandes mancher Kreise durchgezogen habe, beweist jedenfalls eines: ich bin doch ein Grazer.

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