Anant Kumar

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Fahrt in den Schnee

Heute ist der 2. Februar, und der EC 29 Joseph Haydn rast durch den Schnee zum Westbahnhof Wien. Ich bin in Frankfurt eingestiegen, und ich fahre mit dieser, der schnellsten Verbindung, nach Passau, um heute abend in der Evangelischen Studentengemeinde eine Lesung zu halten.

Märchenhafter Blick

Es hat aus vollem Herzen geschneit, und es liegen endlose Schneeteppiche, deren Jungfernhäutchen kein Menschenfuß zu zerstören weiß. Darauf knallt die Indiensonne hemmungslos ihre gelben Strahlen, und das Kreideweiß scheint fröhlich zu erwachen. Es ist, als küsste die Muse ihren Geliebten wach. Immer wieder tauchen Kiefernwälder auf. Im Schnee gebadet, schweigen sie glücklich und schütten ihren Segen auf das liebkosende Paar: Auf den Schnee und auf die Sonne.

Ein märchenhafter Blick aus dem Bilderbuch!

Süddeutsch

Es ist Freitag Nachmittag, und die Züge sind voll. Mit viel Glück habe ich jedoch wieder einen Sitzplatz. Mit jedem Bahnhof werden wir süddeutscher. Auffallend schnell ist der Personalwechsel. Und damit werden die Fahrscheine ständig kontrolliert. Der letzte Kontrolleur spricht höflich Wienerisch, und bei seiner österreichisch-genauen Kontrolle erwischt er einen Fahrgast ohne EC-Zuschlag: Eine ältere Dame, ausgerechnet die einzige Wienerin in unserem Abteil. Ein wenig in Verlegenheit geraten, versucht sie sich zu rechtfertigen. Die beiden Netten unterhalten sich in ihrer Muttersprache.

Im Gang spielen johlend zwei Kinder. Ein farbiger Junge neckt ein blondes Kind, wahrscheinlich sein Halbbrüderchen.

„Möchten Sie in Österreichischen Schilling bezahlen – oder in DM?“ Der Schaffner ist mit seinem Gerät zurückgekehrt. „Ich denke, dass ich noch DM habe“, legt die Wienerin dem Wiener den Zehnmarkschein kurz vor der Grenze vor. „Ich bedanke mich bei der gnädigen Frau“, dankt der Wiener übertrieben höflich seiner Landsfrau. Wir fühlen uns in die alten deutschen Filme versetzt und grinsen gleichzeitig, die Gnädige eingeschlossen.

Die Passauer Orgel

„In Passau hat es dieses Jahr viel geschneit“, teilt mir der Herr Pastor beim Abholen mit. „Sonst haben wir eher wenig Schnee, weil Passau niedrig im Tal liegt.“ Die Schneeflocken rieseln weiter, und die schönen Gassen werden immer matschiger. Ich entscheide mich, auf die Stadtbesichtigung zu verzichten, und stattdessen lasse ich mir ein wenig über Passau erzählen. Die Anekdote über die Passauer Orgel, die mir schon im Zug eine junge Gärtnerin aus Passau erzählt hat, wird vom Herrn Pastor bestätigt. Die größte Orgel der Welt befindet sich im Passauer Dom, und es wird darauf noch gespielt.

Aufgewühltes Herz

Am darauffolgenden Tag kehre ich ebenso zufälliger- wie auch interessanterweise mit dem gleichen EC Joseph Haydn nach Kassel zurück. Passau liegt in Deutschland an der Grenze zu Österreich. Gegen meine Erwartung kontrolliert die österreichische Polizei Personalausweise. Mein Reisepass liegt in der Schublade in Sandershausen. Da ich mich in der Bundesrepublik Deutschland befinde, bilde ich mir ein, dass die anderen Dokumente –  Studienbescheinigung, Versicherungskarten, Kreditkarten, Mitgliederausweis – genügen. Nein, die österreichische Polizei arbeitet korrekt und möchte mich erst mal mitnehmen. Als letzten Versuch zeige ich dem Staatsdiener die neuesten Presse-Kritiken und die Einladung nach Passau und schaffe es, mich von den Krallen des Staates zu befreien.

Mein Herz ist ein wenig aufgewühlt, und ich lasse mich in ein Buch versinken. Die Reiselektüre ist ein praktisches, tragbares Reclambändchen mit dem Titel „Das kalte Herz von Wilhelm Hauff“.

Die Trauer

Gestern Nacht hat es weiter geschneit. Der Schneeteppich ist dicker geworden, und die Landschaft sieht karg und still aus. Vor mir sitzt eine junge Frau mit glasklaren blauen Augen. Sie sind traurig und werden immer wieder glasig. Die Frau schaut zum Fenster hinaus in die Schneelandschaft, die heute anders ist als gestern. Der Schnee ist noch weißer geworden, aber es fehlt ihm seine Muse: Die Sonne mit ihren animierenden Liebesstrahlen. Es ist die Vorstufe des Grauwerdens. Die Natur scheint heute mit zu trauern. Erlebe ich vielleicht gerade die Trennung zweier Liebespaare?

In Kassel hat es übers Wochenende auch viel geschneit, und am Montag sind die Menschen, einschließlich mir, verärgert über das Ende der Kälte und des Schnees: „Mich irritiert es, dass es immer wieder in diesem Winter warm wird“, äußert Marc. „Aber dieses Jahr hat es soviel in Kassel geschneit, wie in den letzten zehn Jahren nicht mehr…“ fügt Marc hinzu.

Zusammen mit Marc hatte ich in Kassel studiert, und er wird den nächsten Winter als Lektor für die deutsche Sprache im Vereinigten Königreich verbringen. 

Der vorliegende Text erschien in: Anant Kumar: Die galoppierende Kuhherde – Essays, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2002, S. 15-20.

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