Dieter Sperl

Zeitgenössische österreichische Literatur

Zwei Texte

Das Raumschiff

Während ich Bruno begrüße, mit dem ich vor vielen Jahren eine kurze, aber heftige Liebesbeziehung hatte, wandert mein Blick zu dessen Haaransatz, prüft die unter seinem Hemd angedeuteten Schwimmringe, bemerkt flüchtig den Ekel erregenden Goldring an seinem kleinen Finger, und als ich im darauf folgenden Moment seiner Wange mit der meinen gefährlich nahe komme, eingehüllt in den schwerelosen und murmelnden Kaffeehausraum, muss ich plötzlich den Satz denken: Bruno ist tot. Der Mann, der statt seiner da sitzt, muss jemand anders sein, der bloß seinen Namen trägt, denn dieses kleine geschniegelte Männchen, mit den Wurstfingern, wirkt wie ein armseliger Gefangener zwischen seinen auf dem Tisch ausgebreiteten Accessoires. Das ist nicht Bruno, denke ich, während mich dieser fremde Mann schon nach wenigen miteinander gewechselten Sätzen gönnerhaft einlädt, ihn und seine Frau besuchen zu kommen. In Niederösterreich, wo er vor drei Jahren ein Wochenendhaus gekauft hätte, sei es zur Zeit besonders schön, behauptet er, der klare Himmel, diese absolut reine Luft, dazu das flache winterliche und weite Land. Du könntest dich ein paar Tage ausspannen, sagt er, die frische Luft genießen und Inspiration tanken, das ist ja für eine Künstlerin besonders wichtig. Ich sehe mich unvermittelt als Schneefrau, in der Nähe von Retz, mit einer Karottennase im Gesicht, fühle den eisigen Wind an meinen Wangen und Fingern. Aber mehr als dieses vertraute und gleichzeitig völlig fremd gewordene Antlitz irritiert mich plötzlich, wie selbstverständlich ich jeden Satz zum Besten gebe, wie eindeutig und beiläufig jede meiner Bewegungen daher kommt, als ob ich selbst ewig in diesen scheinbar eigens für mich erfundenen Handlungs-Geläufigkeiten leben könnte, von denen Bruno und all die anderen Brunos Teile davon sind. Mit einem Mal kommen mir meine gegenwärtigen Gedanken und all meine schon zur Aufführung gebrachten wie Invasoren vor, die irgendwann in mich eingedrungen sein mussten, wie Bakterien oder Viren. Mein im Kaffeehaus umherschweifender Blick begreift die Menschen nunmehr als Zombies, die uneingeschränkt ihre von den im Universum herumschwebenden Gedanken angeschafften Bewegungen ausführen, und die die Menschen als ihre Raumschiffe benützen.
Ich werde nach einer neuen Mannschaft Ausschau halten, sage ich, dabei Bruno anlächelnd, der trotz meines für ihn wohl irrwitzig klingenden Satzes keine Spur von Verlegenheit zeigt, gerne nehme ich die Einladung an, ergänze ich und erwidere Brunos beiläufige Berührung.

Mit unterirdischen Fangarmen

In einer merkwürdigen, möglicherweise hinter meinem Rücken entstandenen Redeweise beschleicht mich das bestimmte Gefühl, ich, der ich noch gar nicht vollständig zugenäht worden bin mit den Stricken des Lebens, obwohl längst über dreißig, könnte vielleicht zum Wunder Mensch, dieser ununterbrochen nach Verhaltensoptimierungen heischenden Überlebensmaschine, gar nichts Entscheidendes hinzufügen. Dieser Gedanke, sofern er manchmal in mein Bewusstsein tritt, stimmt mich dann fast immer eine Zeit lang ziemlich traurig, und ich ziehe mich als Folge davon in meine auswendig gelernten und jederzeit abrufbaren Handlungen zurück oder falle in mein überirdisches, an der Kippe zu seinem individuellen Verschwinden befindliches Lächeln. Dass man an einem scheinbar x-beliebigen Punkt an einem scheinbar x-beliebigen Ort in den so genannten eigenen Schädel hinein geboren wird, in welchem bloß wenige Jahre nach der erfolgreichen persönlichen Geburt schon die ersten echten Blumen zu riechen beginnen, habe ich in meinen besten Momenten tatsächlich hinnehmen und verstehen können, aber bestimmt auch gleich viele Male nicht, wie ich hier, der Wahrheit gemäß, hinzufügen möchte. Vergissmeinnicht, Nelken und Buschwindröschen waren, soweit ich mich erinnern kann, der Reihe nach aufgetreten, zu denen ein individueller Zugang aufgebaut werden musste. Farben streckten ihre Hände nach mir aus und Düfte verzauberten meine Nasenschleimhäute. Der im Freien oft dazugehörige Wind versetzte mich häufig in eine von mir zumeist als unauffallend wahrgenommene Wirklichkeit. Und so stehen wir in unseren Wirklichkeitsbehauptungen stets auch auf der besonderen Seite des Lebens, winken manchmal beiläufig den vorbei fliegenden Passagierflugzeugen zu und machen uns so unsere Gedanken. Welche Lebensversicherung haben wir eigentlich abgeschlossen? Und wann war das? Wie viele Jahre können noch mit uns als Beitragszahler rechnen? Wann wird das letzte Bedeutungsraumschiff in unserem Gehirn seine Zelte abgebrochen haben? Was bedeutet dieser Augenblick dann überhaupt?
Wenn man sich nun tatsächlich bemüht, diese Fragen so klar wie möglich zu sehen, wird man bemerken, dass es knapp vor dem Entstehen oder dem Begreifen und gleichzeitigem Durchsetzen möglicher Erkenntnisse immer einen Moment gibt, in welchem diese wie Seifenblasen zerplatzen (als habe es sie nie gegeben) und menschenleere Bewegungen sichtbar werden, bis man überwachsen ist, bemoost, mit Vögeln auf den Schultern, frei von Erschöpfung oder Aufregung, mit unterirdischen Fangarmen, die keine bestimmte Form mehr haben, sich, wenn es notwendig ist, verlängern oder verbreitern, und sich wie ein Blutstrom bewegen, und man ist dieser Strom und ist gleichzeitig man selbst: Momente höchster Güte.

 

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