Guntram Balzer

6 Texte

„Was aber tun in einer Zeit ohne Maßlosigkeit? Natürlich könnte man sich versuchsweise bei lebendigem Leib rösten lassen; eine Lesung unter selbigem Titel geben; die tiefen Schluchten der Meerungeheuer aufsuchen, sich einer Elektroschocktherapie unterziehen; nach Alaska auswandern oder den Damen vom fremden Stern ein farbiges Empfangsfest bereiten, usw. Aber das alles ist im Grunde nur Poesie.“
Paul M. Waschkau

Rambazamba
oder aus King Learys Winterschlaf erwachen

Ob Kaugummi oder Dauerlutscher
now and forever
die Welt erobern:
oder Blättchen, Shillum, Silberpapier,
Kreditkarte, Kokainstaub,
dazwischen Comics, Yoko Onos
letzte CD auf dem Tisch:
wollen wir einen Joint
rauchen? Push me up to the
limit tun andere
mit Kopfstand
great escape, beautiful
dreams, sex & violins:
Rambazamba ist eine
politische Botschaft
ich will Spaß und ein
Milchshake; grün, grüner
am grünsten an dem Tag
an dem anderen mehr
oder weniger
wir stehen stundenlang im Stau
vor sinnlosen Ampeln
Gesetzen, Anhänger von Baghwan
und die JesusFreaks halten ihren
Gottesdienst im alten Elbtunnel
denn das Volk ist geknechtet
und Brot gibt es
in Hülle und Fülle
Brot und Spiele
das sagt nicht Herr Thoma
aber meint es, der Vorkauer
oder turnt er oder lehrt er lesen
du bist nichts
oder fast only wearing these,
Mr. Thimothy Leary, was meinen
Sie dazu? Warum sonst die
hemmungslose Raserei vor
Geschäftsschluß – oh, geknechtetes
Volk, dass nur bei Tageslicht einkaufen darf
außer Kaugummi und Dauerlutscher
Zigaretten kommen auf Platz 3
danach Utensilien für die
breitgetretene Liebe: Sugar rubber,
Blackbird, Eddi Croco, die Leuchtlümmeltüte
doch während Avanti bereits
Calvin-Klein-Unterwäsche
als beliebtestes Reisemitbringsel
aus den USA verdrängt hat,
stellen sich Europas Behörden quer –
bis zur Gewißheit blinkt es
auf dem Bildschirm Guten Morgen –
Deutschland und in der
lauen Zeit ist der Prozentsatz der Männer wichtig,
die sagen, sie würden lieber
ein Snickers essen, als
Sex haben, ferner ist wichtig
wer schon mit Koestler, Mingus,
Cary Grant geschnupft, geraucht,
geschluckt, mit Eldridge Cleaver für die
Black Panther gekämpft, John Lennon
inspiriert, die virtuelle Realität mit entdeckt
und die Cyberspace-Kultur mitbegründet hat.
Der fette blinde Hund sackt in der ersten
Marihuana-Wolke des Tages nieder
und sagt: Push me up to the limit
Jim Woodring zeichnet dir anhand Paßfotos
ein Jiva-Portrait deiner Seele. Marc
Fischer hat in der Van-der-Snissen-Straße
ein Löffelchen Kaviar probiert und
die Salami auf dem Hungarian
Sandwich von Daily Deli macht keinen sehr
ungarischen Eindruck mehr
und beim Schwarzfahren in der Bundesbahn
gab es Würstchen mit Senf vom Mitropa
Servicewagen. Nur Eckhart Nickel
konnte nichts essen, denn ein Starfrisör
aus München hatte ihm den Bart mit
Haarfärbemittel eingeschmiert. Draußen
ist es dunkel geworden. Die Apostel sind
in die Stadt gefahren. Die mit den
Impfnarben spült. Leary kramt in
einer Kiste, wickelt sich eine DDR-Fahne,
hebt die Faust in der erschöpften
Pose der Revolution: Rambazamba
pushes me up to the limit
emotional rescue
Giftzwerg – ohne Garantie auf
Erste Hilfe: ich vermisse den Hinweis,
wie er auf Beipackzetteln üblich ist.
Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen
sie hier nicht weiter:
Turn on, tune in, drop out

Divider Line

IceTea fällt durch
saugen, schlucken, lutschen
Flutschfinger, Ed vom Schleck:
(Slogan: Schieben, schlecken,
Action – das ist Satisfaction)
Die heftigste orale Versuchung und
plötzlich sanft und süß nach der
Mutterbrust. Eine diskrete Annäherung
ermöglicht seit den Sechzigern das
Eiskonfekt: zwei kalte Finger, die sich
im Dunkeln des Kinos in einer Eisschachtel
treffen. Wie immer ist die Vanillieseite
zuerst weg. Was bleibt? Haselnuß in
brüchiger Schokoladenkuvertüre und
das Hämmern der Herzen in der Dunkelheit.
Um die erhitzen Körper weiter zu soleroisieren
gibt’s jetzt in den Neunzigern neben der
Urform in Tropisch-Orange die rote Variante:
Waldfrucht. OB’S FRUCHTET? Mit
einem Eis verändert sich der Lauf
der Welt. Man hört auf zu hasten
und beginnt zu schlendern. Man
blinzelt in den Himmel, harte Blicke
tauen auf. Eine Eismaschine ist eine
Zeitmaschine. Gefühle sind auf Eis gelegt,
Konserve:Ich und mein Magnum ist ein typisches
Fraueneis, weil Männer sich in stressigen
Situationen gern etwas Größeres gönnen,
etwa ein Auto oder eine Freundin. So
schmilzt der Sommer und die künstlichen
Aromastoffe verlieren sich in der Sonne

Divider Line

Ich gehe zur Arbeit

Ich gehe zur Arbeit, das ist
keine fragile einsame Sänfte
auf Zirruswolken: Gesichter
umtanzen Nasenflügel, von
denen ich nichts wissen will,
richten ihre hervorquellenden
Augen auf mich. Blick in der
privateigenen Psyche bunten
Innern. Die Monster in Pelz
und Folie schwarz, schwärzer,
am schwärzesten, bartlos geschabt,
rouge betört, Chanel und Klein
waren nur den Bruchteil einer Sekunde
aktuell: Versuchen sie, probieren
sie ES!! Dann begegne ich den
Karikaturisten, ich nicke ihnen
zu. Auch sie sind ratlos wie die
Gedichteschreiber, die sich die Worte
aus den Rippen schneiden: Und sagte
kein weiteres Wort: Bis ich die rettenden
Türen erreiche, wate ich noch durch Seen von
Plagen: Rost, Seide, Aluminium
Ich bin Antonius. Dali hat mich gezeichnet

Divider Line

Endlich wieder glotzen

Endlich wieder glotzen, ICH
Barenboim, Levine, Schmied
vor Feuer, ICH, rauschender
Dreimaster, Grotte der
Unterwelt, ICH, und steifer
Knickerbockeronkel, breitbeinig
aufgepflanzt, singt gegen die
Ewigkeit an; dann Aufmarsch
der Zünfte zum großen Finale
reinster Karneval volkstanzend
ordnet sich grünbuntes Chorvolk
zu übersichtlichen Kreisen:
archaisches Ritual und große
weiße Punkte auf dunkelblauem
Glockenröckchen vor mir,
transparente Stoffe in Schwarz,
ICH, knallrosa Volants überall,
halsbrecherische Schuhe, die
mit kleinen Perlen bestickt sind
und Zuhörerfoto von Balkon,
dort ICH, Mittelalter, Honoratioren
vorgefahren, die mit Gattin
Blumen zu Grab bringen, ICH,
Wagnerverein Trier e.V. mit
schwarz-rot-goldenem Blumen-
gebinde. Auf den mitgebrachten
Papiertaschentüchern steht:
Grüß mir Walhall. Am Abend hat
mir der Gesang die letzten
Lindenblätter vom Anzug vertrieben.
Jetzt bin ich unsterblich. ICH

Divider Line

Abendveranstaltung

Und wieder schwimme
ich in Leder
und Kunststoff-
Hose mit Schultertasche
von Moschino-Band
zusammengehalten
über Stiefel, Schuhe,
Plattfüße, Zehengänger-
Innen in Nylon gepreßt als
Kontrast eine Deichmann-Tüte
und falsch angewendete
Modalverben: auf der
Rolltreppe häufen sich
hautnahe Berührungen
und was tragen wir morgen:
die roten Stiefel
das Plastikkostüm
die Totenmaske

Divider Line

Standpunkt

Eßt Bleistifte
trinkt aus Radiergummis

macht sie mundtot
mit ihren Schreibgeräten

die Sesselfurzer und den
Standort koHL

geht weg von den allgemein
verbindlichen Grübeleien,
den Tränensäcken und Klagetöpfen

und laßt euch freiwillig von
euresgleichen in den Mund schauen

dort wo die Wörter entstehen und
die Sätze noch Bestand haben

dann lacht sie nur aus
die Orthografiekünstler

die Schreiberlinge des
deutschen Kochbuches

jetzt wo alle Messen gelesen sind

 

Guntram Balzer, geb. 1963 in Hagen/Westf., Studium der Germanistik und Philosophie an der Universität Düsseldorf, Buchhändler, Veröffentlichungen in Zeitschriften (Unicum, Literaturdienst, Tasten) und Büchern (Wortnetze III, Zehn, Junge Lyrik dieser Jahre) zuletzt: Pcetera Multimedia CD-ROM, lebt in Wuppertal. Wuppertal, den 15.10.1996

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

%d Bloggern gefällt das: