Martin Krusche: Shortcuts

Durch die Nacht
(Shortcut 001)

Marianne war nicht in der Lage, ihren Kopf wie gewohnt zu bewegen. Der Nacken schmerzte. Sie rollte die Augen, um so viel zu sehen, wie in ihrer Lage möglich blieb, drängte schwer atmend an die Ränder ihres Gesichtsfeldes. Der Raum war völlig kahl, beunruhigend leer, auf merkwürdige Art beleuchtet. Blau und Orange mit verblüffend scharfen Konturen an den Rändern der Farbzonen.
Alles um sie mußte ursprünglich weiß sein, dachte Marianne, da es so vollkommen die Farben des Lichts angenommen hatte. Schmerzendes Licht, dessen Quellen sie nicht ausmachen konnte. Die Stille empfand sie besorgniserregend.
Das Atmen war so mühsam, als wäre sie unter Wasser gedrückt worden. Ihr Leib schien ein Vielfaches zu wiegen, ihre Arme und Beine – wie geschunden –, waren so kalt, dass Marianne staunte, nackt daliegen zu müssen. Warum? Eine Decke sollte doch selbstverständlich sein. Nichts dergleichen.
Sie versuchte, nach ihrem Mund zu greifen. Es war als ob sie vergessen hätte, wie man dem Arm, der Hand befiehlt; genauer noch: wie man will. Wie man durch Wollen eine Bewegung einleitet. Marianne bekam Angst. Angst, die ihren Körper noch schwerer machte. Sie lag da wie gekreuzigt, und der Nagel, ein einziger bloß, war in ihren Mund, in den Rachen geschlagen, durch den Nacken. Keine Erklärung. Es war ihr danach zu weinen.
Sie dachte an Wilfried und dass er ihr all die zwei Jahre, seit er gestorben war, schmerzlich gefehlt hatte. Er würde doch hier sein, um sie zu trösten.
Um ihr zu sagen, was mit ihr geschah. Frierend und verängstigt begann sie um Wilfried zu weinen. Währenddessen unterhielt sich der Oberarzt mit der Anästhesistin.
Bei der Intubation bin ich mir vorgekommen wie ein Idiot. Ein Anfänger. Weiß der Himmel, was los war. Am liebsten hätte ich ihr den Tubus mit einem Hammer hineingeschlagen.
Du hättest dir das sparen können, erwiderte die Anästhesistin. Würde mich sehr wundern, wenn sie durch die Nacht kommt.

Divider Line

Am Morgen danach
(Shortcut 002)

Blitzende Augen, dachte sie, sind ja bloß eine Interpretation, und sah in die Kaffeetasse. Aber diese Fältchen um die Augen und wie er ihr mit Blicken den Hof machte: eben erst angekommen, ein bißchen zu laut nach ihrem Geschmack, fast berstend von physischer Arroganz, reichlich groß geraten, in engen Hosen aus dünnem Stoff, etwas verstaubt; wohl von einer langen Reise, Anfahrt in den duftenden Süden, auf roter Erde nun, die Treppe heraufgepoltert, den Hausherrn mit Vertraulichkeiten überschüttet und die herzkranke Patrona gedrückt, von den Füßen gehoben, Was brauch ich den hier? dachte sie in die Kaffeetasse hinein, Der macht mich nervös! Trotz der herrschenden Mittagshitze verließ sie die überdachte Terrasse, kühle Nische in diesem Zweifamilienhaus, dessen Erdgeschoß Reisenden mit bescheidener Kasse offen stand. Zwei Badezimmer, eine Küche, mehrere Schlafräume. Sie holte ihre Tasche und verließ die rote Erde entlang der Weinhecken, die einen sauren Wein gaben. Der Strand war nicht fern.
Am Nachmittag sah sie ihn dort auftauchen. Markant zwischen den anderen, gekleidet, als wäre er ein Satz Signalwimpeln auf einem einsamen Schiff, auf einer langen Reise. Muß das sein? dachte sie in ihr Badetuch hinein, Der macht mich nervös! Und hoffte, er würde sie nicht entdecken. Als die Sonne sank, wanderte sie in die nahe Stadt, glühend von der Tageshitze und etwas Unruhe, die sich anfühlte als sei in ihr warme Milch übergegangen. Sie hatte Lust nach starken Geschmäckern des Meeres und einem schweren Wein, der nicht so nach saurer Arbeit schmeckte, wie der Haustrunk ihrer Herbergsleute. So flogen die Stunden und mit summendem Puls fand sie ins Bett, schlief heftig träumend, ohne sich in der Morgendämmerung an Einzelheiten erinnern zu können. Die trockene Kehle schien sie geweckt zu haben, deshalb ging sie in den Vorraum, wo ein Kühlschrank allen Gästen zur Verfügung stand. Anschließend betrat sie das eine der Bäder, in dem, wie sie nun sah, der neue Gast heimisch geworden war. Sie staunte, dass auf der Ablage vor dem Spiegel ihr Zahnputzglas samt Inhalt zur Seite geschoben war, um anderen, offenbar seinen Dingen Platz zu machen. Tuben, ein Kamm, Rasierzeug und anderes. An der Wand links davon, da man sich hier in einem Winkel des Badezimmers befand, hing eine ausrollbare Plastiketagere mit Bürsten, Fläschchen und Beutelchen, mit Medikamenten, Zahnseide und kleinen Schachteln. Hinter ihr stand eine Waschmaschine der Patrona, mit einem gehäkelten Deckchen belegt, mit neuen Gaben versehen, Tiegel und Fläschchen, staunenswertes Zubehör eines peniblen Mannsbildes, eines Kerls um die vierzig, der entweder nicht mehr ganz gesund war oder aber atemberaubenden Aufwand trieb, es zu bleiben. Während sie noch überlegte, wo sie nun ihren paar Dingen wieder Platz verschaffen könnte, sie, die zuerst dagewesen war, fiel ihr Blick auf den Einstieg der Badewanne, jenen schmalen Durchlaß in der opaken Kunststoffverschalung, die rundum das Spritzwasser in der Wanne zu halten hatte. Auf dem kleinen Stück Wannenrand, vormals freier Zugang, lag etwas, das seine Badehose sein mußte. Wenn es ein Fensterbrett gäbe, vermutete sie, wäre es wohl auch okkupiert.
So einer bist du, dachte sie am Morgen nachdem er erstmals auf die Frühstücksterrasse gepoltert war. Einer, den man mit einem nassen Handtuch erschlagen muß. Dabei bewegten sich ihre Lippen als würde sie die Worte aussprechen.

Divider Line

Schräg an der Bar
(Shortcut 003)

Er tätschelte ihm die Wange.
Mach das nicht! sagte Ralf gereizt.
Das ist Don Vito Corleone, verstehst du? erwiderte Hermann. Es ist eine Geste der liebevollen Zuwendung. Der Gute. Es hat mir immer sehr gefallen. Sehr! Mein Vater hat das nie gemacht.
Ralf zog die Mundwinkel herunter. Dondevito-Blödsinn! Kein Blödsinn. Das ist Marlon Brando, was ich dir da zeige. Manfred versuchte eine belegte, leise Stimme hinzukriegen: Mach ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen kann. Das ist gelassene Väterlichkeit. Ralf wand sich. Ich finde das peinlich. Willst du so weitermachen, bis alle Leute hersehen?
Hermann verdrehte die Augen nach oben, sah sich demonstrativ um. Wen sollte das stören? Es ist Brando. Er war ein Gigant. Kennst du sonst jemanden, der mit so vielen miesen Filmen ein Gigant werden konnte? Ralf rückte seinen Hocker etwas von Hermann ab. Du sollst nicht an mir herumtätscheln. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Hermann schob zuerst sein Kinn, dann seinen ganzen Oberkörper über die Theke. Noch zwei Jackies, Nora! Damit sich hier die Lage beruhigt. Macht er dir Schwierigkeiten, Schatzerl? sagte Nora und ließ ihre zierlichen Nasenflügel kurz schweben, während Ralf fast in ihr Dekolleté stürzte. Na schau, wie leicht ihm schwindlig wird, Schatzerl. sagte Nora mit einem rührenden Lächeln und einem schärferen Tonfall im letzten Wort. Dabei wischte sie in einer halben Körperdrehung mit einem Tuch die Theke trocken und stellte in der kurzen Gegendrehung die neuen Gläser auf die Platte. Es war eine ihrer Eigenheiten, nützliche und erfreuliche Bewegungen fast ansatzlos ineinander fließen zu lassen.
Hermann beugte sich zum abgerückten Ralf hin. Und du sagst, ich soll hier keine peinlichen Sachen machen, mein Lieber. Ralf errötete, flehte sein Schicksal an, das gedämpfte Licht möge ihn damit nicht preisgeben.
Übrigens, Hermann war nun ganz nah an Ralphs Gesicht, er hat sie in Lateinamerika machen lassen.
Wer? fragte Ralf.
Nora.
Was?!
Die Titten, die du angestarrt hast. Ich glaube, es war in Brasilien.

 

Martin Krusche, Jahrgang 56, Sekretär, Mitarbeiter der ARGE Region Kultur, Hausmeister der Virtuellen Akademie Nitscha. Diese Texte sind Teil einer im Entstehen begriffenen Serie von Miniaturen unter dem Titel „Shortcuts“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

%d Bloggern gefällt das: