Anant Kumar

Modern Times

Das Asylantenheim geriet in Aufruhr, als Montag morgens die Mitbewohner den Bangladesher Abdul Qasim mit einem hübschen, hiesigen Techno-Mädchen sahen. Abdul Qasim, der 30 jährige Asylant aus Bangladesh, der kaum Deutsch verstand, spielte unter den anderen Asylanten wegen seiner Habichtnase den Spaßmacher. Und ausgerechnet diesen Idioten sollte das Glück treffen? Sein Glück verursachte – logischer- und menschlicherweise – bei den anderen frustrierten Männern, darunter besonders bei seinen Landsleuten, dermaßen Neid, dass Abdul Qasim in den darauf folgenden Tagen das Heim verließ. Legal oder illegal. Wir wissen das nicht.
Natürlich werden der männliche Trieb, die Geborgenheit und vielleicht auch ein wenig die Liebe bei seinem Zusammenziehen mit der hübschen Freundin eine wesentliche Rolle gespielt haben. Was Martina an ihm gereizt haben soll, darüber wird bis heute vielerlei spekuliert.

Während ihrer viermonatigen Beziehung mit diesem Asylanten soll sie einigen guten Freunden, denen man immer wieder Lebensgeheimnisse anvertraut, erzählt haben:

„Er kocht sehr gut! – Schön scharf!“
„Er ist auch scharf – ein scharfer Lover!“

Aber wie für uns bestand auch für Martina das menschliche Leben nicht bloß aus dem Fressen und dem Fortpflanzungstrieb. Sondern es gab darüber hinaus wichtigere Sachen, z. B. Kultur und geistige Nahrung. Wieviel oder ob Abdul Qasim geistige Nahrung besaß, werden wir später erfahren.
Richtig ist, dass es von Anfang an zwischen Martina Rindvieh und Abdul Qasim eine große Sprachbarriere gab. Die ersten paar Brocken Deutsch brachte ihm die Sozialwesenstudentin mit der üblichen Didaktik bei:

„Man sagt auf Deutsch…!“ oder
„Das sagt man auf Deutsch nicht!“

Oft gab es dabei Gelächter und Späße. Die Freundinnen Martinas drückten ihre Freude über seine Sprachverwirrungen und -fehler harmlos kichernd aus: „Das ist aber süß!“ oder „Das war süß!“ Und darauf Abdul Qasim mit seiner Habichtnase: „Häh! Häh! Häh! Dutsch – Ein schwer Sprache! – Sehr kompliz!“ Und er zeigte seine Zähne weiter, die ein beachtliches Lob bei Martinas Freundinnen fanden. Martina und ihre Freundinnen demütigten jedoch Abdul Qasim nicht wegen seiner Fehler oder schlechten Aussprache.
Sondern sie sagten: „Aber man kann dich verstehen.“ Jede von ihnen war auch mit der wissenschaftlichen Feststellung Abdul Qasims einverstanden, dass „Dutsch“ eine sehr schwere Sprache sei. Die Marlene sagte darauf:
„Gott sei Dank, dass sie meine Muttersprache ist. –- Komische Grammatik!“

Aber irgendwann wurde Martina Rindvieh all dieses langweilig und manchmal zuviel. Und analog vermehrte sich ihr Verlangen nach der eben erwähnten geistigen Nahrung. So lernte sie zufällig auf Juttas Fete einen Engländer kennen, der sehr gut Englisch sprach und schon bei der ersten Begegnung anfing, Martinas Abitur-Englisch zu verbessern. Dabei ermutigte er sie immer wieder. Mal erklärte er ihr den Gebrauch eines Begriffes. Mal erklärte er ihr, wo man was in England sagte. Dabei kamen sehr witzige Sachen raus, zum Beispiel, dass die Iren nicht „Fucking Shit“ sondern „Focking Shait!“ sagen. Und dabei blieb Mike ein bescheidener Gentleman mit seinem sich wiederholenden Kompliment: „But your English is pretty good!“. Das war genau, wonach sich Martina in den letzten Tagen sehnte. Ihre Stimme wurde weicher und süßer, und sie sagte immer wieder wie eine Lady: „Thank you!“ Und der Gentleman darauf: „You are welcome!“ Der Abend wurde süßer und länger. Händchen wurden gehalten und zärtlich gestreichelt. Man sang die wehmütigen Phil Collins-Lieder mit. Als frühmorgens Martina mit schlaf- und romanzetrunkenen Augen in die Wohnung eintrat, wartete Abdul Qasim mit blutunterlaufenen Augen auf sie. Ein wenig nervös und noch mehr erbost. Es gab zwischen den beiden Krach, der sich weiter zuspitzte. Martina wollte sich aber sofort zum Schlafen hinlegen und vom süßen Abend weiter träumen. Und der Bangladesher wollte es vorher mit ihr treiben. „Nein! Hände weg! Nur das hast du in deinem schmutzigen Kopf! Du Schwein!“ Gekränkt musste sich Abdul Qasim zurückziehen.

Schon am zweiten Tag brachte Martina den Mike in ihre Wohnung. An dem Abend tranken alle drei Tee, und es wurde sich auf Englisch unterhalten. Das Gespräch wurde durch Abdul Qasim noch witziger, weil er wie gewöhnlich ein wenig Englisch mit starkem „Indischen Akzent“ sprach. Dauernd fragte der Mike: „Sorry, what?“ oder „Excuse me?“ Und die Martina übersetzte die Aussprache Abdul Qasims weiter, sagend: „He has a strong Indian accent!“ Und der Gentleman sagte einverstanden: „Yes! You are right! I had a friend from Bombay in Manchester who spoke like him!“ Die Gespräche über die documenta-Kunst sagten dem Asylanten nichts. Er langweilte sich dabei und wurde allmählich noch eifersüchtiger. Ihm wurde die bevorstehende Gefahr klarer, die ihre Krönung darin fand, dass beim Abschied Martina den Mike fest umschlang und küsste.

Zum ersten Mal weigerte sich Abdul Qasim an jenem Abend zu kochen. Er warf ihr sogar vor: „Du! Warum nicht kochen?“ Martina versuchte vergeblich das mit ihren anderen Arbeiten auszugleichen. Der Zank wurde diesmal schlimmer. Die beiden fingen an, mal „Eure Kulturen“ und mal „Die deutsche Kultur“ schlecht zu machen. Irgendwann sagte der Mann zu der Frau: „Du, deutsche Hure!“ Wir sollten besser die Deutschlehrer fragen, um genau zu wissen, warum man in einer Fremdsprache die Schimpfwörter und Liebeswörter unbedingt und schnell lernen möchte. Mit dieser Bezeichnung hatte es aber der Sozialwesenstudentin gereicht.

„Raus! Pack Deine Sachen und raus!“ brüllte sie ihn an.

Der Asylant raus und der Gentleman rein. Und damit verwandelte sich das Techno-Mädchen Martina in die Lady Martina. Jean Pascale-Kleidung wurden vom schwarzen Kostüm und die Buffalos-Schuhe von eleganten, hochhackigen Schuhen ersetzt. Man sah das Paar regelmäßig in Theater und Oper. Die Gesprächsthemen waren nicht Clubnews und Hitliste sondern die neueste Inszenierung der Dreigroschenoper oder das neueste Buch von John Grisham. Sie zog sich von vielen alten Bekannten und Freunden zurück. Dafür wurden neue Freundschaften geschlossen. Die Studienanfängerin, die die Studenten meistens in Caféterien sahen, besuchte nun die Vorlesungen und Seminare regelmäßig, und eifrig beteiligte sie sich an den Diskussionen. Diese Metamorphose irritierte einige Mitstudenten, alte Bekannte und Freunde. Dafür wurde ihre Beziehung zu ihren Eltern besser.
Ihr Vater, ein Gastwirt in Kaufungen, hatte sich tierisch aufgeregt, als er von Martinas Affäre mit Abdul Qasim erfahren hatte. „Es gab keinen anderen Mann als diesen Asylanten!“, soll er wütend seiner Frau gesagt haben. Die neue Geschichte von Martina ließ ihn wieder ruhig atmen. Erfreut hatte er seiner Tochter sein altes und sich selbst ein neues Auto geschenkt, damit Martina die Eltern leichter und öfter besuchen konnte. Mike und Martina. Martina und Mike. Es war doch jetzt schöner und besser.

Es war doch jetzt schöner und besser. Und dieses Jetzt dauerte ein halbes Jahr. Nach einem halben Jahr hat sich Martina von Mike getrennt. „Es waren halt zu viele kleine Dinge, die sich auf Dauer aufgestaut hatten. Und ich konnte dann alles nicht mehr ertragen! – Aber mehr möchte ich nicht darüber reden. Gut, dass es vorbei ist!“, und ähnliches sagte sie über die neueste zu Bruch gegangene Beziehung. Nur ihrer besten Freundin, der Sibylle, ist es gelungen, an einem späten Abend im Rausch aus Martina darüber etwas ganz Prickelndes herauszukitzeln. Es waren Zisseltage. Sibylle war lange solo. Und Martina war jetzt solo geworden. Zur Zeit hatte sie keinen Bock auf die Männer. Vieles unternahmen die beiden Freundinnen zusammen.

Gibt es einen Mensch ohne Neugier? Vielleicht in Indien! Da soll es Yogis geben. Sollten wir sie auch mit Menschen gleichsetzen? Das bleibt den Lesern überlassen. Auf jeden Fall gehörte Sibylle zu denen, die gerade das Gegenteil von diesen gleichmütigen Yogis bilden, was die Neugier und das Aufregen anbelangt. Ein männliches Verbrechen in Saudi Arabien aus der Tageszeitung reizte Sibylle dermaßen, dass sie besonders an jenem Tag, an dem ihr diese Nachricht begegnete, alle Männer – sogar die Deutschen – voller Verachtung und Wut ansah.

Also, es war ein Tag des Kasseler Volksfestes. Die beiden Freundinnen liefen angetrunken und heiter umher. Man wollte seinen Spaß haben. Als der Abend fortschritt, waren die beiden mehr oder weniger besoffen und fingen an, die Männer und die Männerwelt zu verdammen. Martina wurde lauter und Sibylle fing an, sie weiter zu kitzeln: „Du hast doch in der letzten Zeit mit Männern aus allen Weltecken zu tun gehabt! Hi! Hi! Hi! – Oder?“ Darauf äußerte Martina besoffen über den Asylanten aus Bangladesh: „Er war dumm. Aber er f… sehr gut! – Echt geil!“ Diese Äußerung bestätigte wiederholt die alte These: „Dumm f… gut!“ Danach soll sich die Martina über die Potenz des Gentlemans beschwert haben. Der Engländer hätte immer wieder in jener Kunst versagt. Danach gingen die beiden in den Erotikladen am Königsplatz, in dessen Einzelkabinen Multinationalitäten sich an Bildschirmen entspannten. Die angeheiterten Frauen amüsierten sich richtig im Spaßladen. Sie nahmen Spielzeuge in die Hand und ließen diese Geräte bewundernd kluge Sprüche ab:
‚Wozu brauchen wir denn die Männer?‘
‚Für gar nichts! Diese Dinge sind fähiger und geiler! Hi! Hi Hi.‘

Als die Insassen der Erleichterungskabinen dieses Gelächter hörten, öffneten sich auf einmal zwei, drei Türen in der Hoffnung auf Live.

Aber was geschah inzwischen dem Asylanten? Abdul Qasim, nachdem er von seiner deutschen Freundin in den Arsch getreten worden war, musste zwangsläufig ins Asylantenheim zurück. Da übernahm er von jetzt an seine verdoppelte Rolle als Spaßmacher unter den anderen Flüchtlingen. Seine Habichtnase als Spottschau hatte er sowohl den Männern als auch den Frauen weiter anzubieten. Noch witziger und würziger für die Männer wurde sein neuestes Abenteuer, dass er von einer Frau rausgeschmissen worden war. So blieb Abdul Qasim weiter ein Opfer für die Unterhaltung der anderen traurigen Schicksale. Sie amüsierten sich endlos über ihn und ließen Sprüche raus, z. B. der algerische Junge wiederholte dauernd:
„Hey! Abdul Qasim! Warum rausgeschmissen – du – das Mädchen? Dein schön Nase oder was?“ Abdul Qasim duldete alles. Er war in tiefe Depressionen geraten. Verständlich. Aber seine Depressionen hatten wenig mit dem üblichen Trennungsschmerz zu tun. Jetzt packte ihn die Angst vor der Abschiebung von neuem.

Viele von uns wissen Bescheid, dass in Deutschland die Asylsuchenden während ihrer Verfahren ihren Wohnbezirk nicht verlassen dürfen. Uns ist auch bekannt, dass viele es trotzdem tun. Mit oder ohne Erlaubnis. Einige werden erwischt. Viele nicht. Viele werden dafür bestraft. Und selten kommt einer mit Hilfe eines wirklichen oder erfundenen Grundes ohne Strafe raus. Abdul Qasim gehörte zu denen, die leider erwischt werden. Er verließ zweimal seinen Wohnbezirk. Und beide Male wurde er von der Polizei ertappt. Das erste Mal hatte er Glück. Er sagte dem Richter, dass er von diesem Gesetz nichts wusste und sein einziger Freund und Landsmann auch als Asylant in Hamburg wohne. Damals wurde er mit einer Warnung entlassen. Beim zweiten Mal hatte er Glück im Unglück. Der Tag, an dem er vor Gericht vorgeführt wurde, stand zu seinen Gunsten. Der dicke Übersetzer, der in der Stadt ein Fernsehgeschäft hat und gewohnheits- und geschäftsmäßig ununterbrochen nur ans Geld denkt, hatte an diesem Tag Durchfall. Und gezwungenermaßen wurde die Philologin aus Indien, die mehrere Sprachen des indischen Subkontinents beherrscht, als Ersatz bestellt.

Sawitri, die ihr Leben den Sprachen und der Literatur gewidmet hat, genießt einen widersprüchlichen Ruf auf dem Campus. Von einigen wird sie stets für ihren Fleiß, ihre Intelligenz und Hilfsbereitschaft gelobt. Und einige finden sie arrogant. Sie soll ihren Freund aus ihrer Wohnung rausgeschmissen haben, nur weil er sie eines Abends aus bloßer Neugier zu viel über die indischen Kühe fragte. Sie erzählte das Claudia am nächsten Morgen und als Schluss sagte sie weiter irritiert mit dem amerikanischen Akzent: „Fuck it! Who cares!“ Danach unterhielten sich die Kommilitoninnen miteinander über die komische Inderin.

Das Amtsgericht war neu für die Akademikerin, und die Justizatmosphäre voller Rechtsanwälte und Klienten wirkte ein wenig einschüchternd auf die Studentin. Ihr kam es vor, als ob dieser Tempel der Justiz ihr auch irgendein Verfahren anhängen würde. Na ja, sie dachte an den Stundenlohn von DM 75, –, und dann ging es ihr wieder besser. Kurz vor dem Verfahrensbeginn kam Abdul Qasim aus der Zelle, vom Sicherheitspersonal begleitet, und sah Sawitri. Gewohnheitsmäßig faltete die Inderin ihre Hände zusammen, und sie tauschten die Begrüßungen. Absichtlich oder unabsichtlich, ließ Abdul Qasim eine bewegende Verszeile eines klassischen Dichters Indiens fallen, sobald er erfuhr, dass seine Dolmetscherin eine Hindu ist. Diese Zeile ist humanistisch auch im Sinne von Nathan dem Weisen und heißt: „Religion lehrt uns nicht gegenseitige Feindseligkeit!“ Der Dichter dieses Textes, auch ein Muslime, gehört zum Kanon der indischen Poesie, und dieser Text genießt den Status der Nationalhymne Indiens. Die Intellektuellen – wenn auch manchmal heuchlerisch – nehmen ständig Referenz auf ihn. Sawitri, die als Abiturientin in Indien immer wieder dieses Lied mitgesungen und es während ihrer langjährigen Europaverfremdung fast vergessen hatte, wurde von Abdul Qasims Satz ergriffen und aufgewühlt. Und der Mann, der vieles im Leben mitgemacht hatte, sah eindeutig die Wirkung seines Spruches auf die Studentin. Als Sawitri ihn fragte, woher er diesen Spruch kannte, log er sie notgedrungen an, indem er ihr sagte, dass er ein großer Fan von Allama Iqbal, dem Dichter, wäre. Dann wurde das Gespräch von den Polizisten abrupt unterbrochen. Sawitri war sehr bewegt und innerlich schwor sie: „Für Dich werde ich etwas tun, Bruder!“ Äußerlich sagte sie ihm jedoch laut auf Deutsch: „Ich kann für Sie nichts tun. Ich bin bloß Ihre Dolmetscherin!“ Das beruhigte die irritierten Polizisten ein wenig. Desto nervöser wurde der Asylant.

Die Verhandlung fing an. Aus seiner Akte ging hervor, dass sein Vater in Dhaka ansässig sei und ein Kleidungsgeschäft besitze. Die Anklage der Staatsanwältin bezog sich darauf. Es ließ sich durchaus behaupten, dass Abdul Qasim beide Male versucht haben soll, in Hamburg eine Geschäftsverbindung anzuknüpfen. Vehement lehnte Abdul Qasim diesen Verdacht ab. Zu seiner Verteidigung sagte er, dass die psychische Vereinsamung und Depression ihn zwangen, seinen alten politisch-verfolgten Kumpel, der in einem Asylantenheim in Hamburg wohnt, zu besuchen. Die Literaturwissenschaftlerin sah jetzt ein Argumentationsmotiv in diesem richtigen oder erfundenen Grund. Sie dolmetschte Abdul Qasims Äußerungen rhetorisch durchdacht, und immer wieder hob sie die psychischen und menschlichen Aspekte hervor. Sie brach dabei den heiligen Schwur des treuen Übersetzens, indem sie Abdul Qasims Äußerungen hie und da zu seinem Vorteil veränderte. Dabei sagte sie zu sich: „Scheißegal! Ich begehe tagtäglich Sünden!“
Der Richter sagte: „Aber es ist gesetzeswidrig und strafbar. Ich kann ihn persönlich auf der menschlichen Ebene verstehen. Aber das Gesetz lässt das nicht zu. Außerdem wurde er schon einmal vorgewarnt.“ „Wieso nicht, Euer Ehren? Sie sind doch auch ein Mensch! Stellen Sie sich mal vor – in einer Gegend ohne Sprache und ohne Gesprächspartner zu leben. Tagelang! Wochenlang! Monatelang! Was würden Sie tun?“

So wurde eine Weile hin und her argumentiert. Die Staatsanwältin war verärgert, weil sich der Richter für eine lange Zeit in seine Kammer zurückzog und dann dem Angeklagten gegen ihre Erwartung eine milde Strafe zusprach: „Zehn Stunden Arbeit in einer gemeinnützigen Einrichtung.“

Während dieser interessanten Verhandlung verstand Abdul Qasim wenig von der Sprache der Inderin. Aber ihren Eifer schon. Außerdem war er von der milden Strafe selbst überrascht, weil jeder im Heim ihn endlos geängstigt hatte, sogar Karl Heinz, der Sozialarbeiter. Draußen schaute er auf ihre Füße und überlegte irgendeine Danksagung. Beide standen eine Weile stumm. Sawitri verstand seine Gefühle. Sie klopfte ihm lässig auf seine Schulter: „Das war’s! Glück gehabt! Jetzt musst Du weiter Dein Schicksal erkämpfen.“ Es nieselte, und Sawitri ging heiter mit großen Schritten zur Haltestelle, an der sie dasselbe Lied aus ihrer Schulzeit summte, in dem die Verszeile „Religion lehrt uns nicht die gegenseitige Feindseligkeit!“ als Leitmotiv vorkam. Ein fetter Mann im schwarzen Anzug und mit einer gelben Krawatte fand die Melodie fesselnd und ging lächelnd auf die Inderin zu. Übertrieben höflich fragte er sie schmeichelhaft:
„Entschuldigen Sie, welche Sprache ist das? Sie klingt sooo schöön!“
Die Inderin hörte abrupt auf und sagte:
„Französisch!“
„Wollen Sie mich verarschen oder was? – Unverschämt!“ Erbost entfernte sich der Mann.

An jenem Tag war Abdul Qasim froh und traurig.

Aus: Die Inderin,
Wiesenburg Verlag,
Schweinfurt.

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