Jörg Pfeifer

Writers Abroad II

Aus der kalten Tiefe

Sie liebten sich auch heute vor dem Aufstehen, so wie seit Jahren Morgen für Morgen, fast ohne Ausnahme. Da gibt es Aufzeichnungen, minutiös notiert von Emilda in ihrem Wandkalender. Ein Herz neben dem Datum bestätigt dies. Rot für den Morgen, andersfarbig, je nach Laune, die zusätzlichen Liebeleien. Meist geht es schnell, doch heute morgen lassen sie sich Zeit, als müsste ihr Mann, “mein schmackhaftes Mannsbild, mein hartes starkes,” wie sie ihn nennt, nicht zur Arbeit. Vielleicht auch, da Emilda im vierten Monat schwanger ist und dieser Zustand Carlos vorsichtig langsam und auch genussvoller sein lässt.

Wer versteht schon die Männer und deren Eigenheiten, denkt sie und dreht sich, nachdem Carlos abgestiegen war und sich für die Schicht fertig machte, noch ein wenig zur Seite und schlummert entspannt ein, bis die Hitze unterm Eternitdach unerträglich wird und sie mit hämmerndem Kopfschmerz erwachen lässt.

Langsam dreht sie sich aus dem Bett und tastet sich nach draußen, um ihren Kopf in die Waschschüssel zu stecken, ihn versucht abzukühlen im laschen Seifenbad, das Hämmern aufzuweichen. So bleibt sie eine Zeitlang. Mit vor Schmerz zusammengekniffenen Augen schiebt sie immer wieder die Wäsche, welche sie gestern Abend eingeweicht hatte, zur Seite. Dann beginnt sie langsam mit den notwendigsten Haushaltsarbeiten, kehrt den Dreck vor der Tür ins offene Rinnsal, möge Gott ihn weiterleiten, wringt die Wäsche aus und hängt sie über der Eternittraufe zum Trocknen auf. Der Kopfschmerz verdunstet. Zum Essen gibts heute Bohnen mit Reis und Maniokmehl, Aufgewärmtes von gestern.

Carlos wird, wenn er heut Abend von der Schicht kommt, seine Wochenration mitbringen, denkt sie erleichtert immer wieder. Auch wenn er wenig bringt – diese verdammten Blutsauger – er kommt nicht mit leeren Händen. So hängt sie ihren Gedanken nach, während der Tag träge dahinschleicht. Es ist ein sonniger, überaus heißer Tag, bis jetzt ein ruhiger. Keine Schüsse, kein Geschrei, kein Gezänk mit den Nachbarn, kein Besuch der Wahlwerber, der Pseudosozialarbeiterin. Keine Polizei. Nur der Gestank verfaulender Lebensmittelreste und wohl auch einer toten Ratte oder Katze in nächster Nachbarschaft stören sie heute mehr als sonst. Da soll noch einer sagen, man gewöhne sich an alles. Sie hätte heute gerne frische, würzige Luft um sich, stellt sich vor, am Gipfel dieses Berges zu stehen und ins Tal, auf den tiefblau glitzernden See zu schauen, und tief, tief durchzuatmen. Immer, wenn es ihr nicht besonders gut geht, blickt sie länger als zufällig auf diesen Zeitungsausschnitt, den sie sich vor langer Zeit an die Wand gehängt hatte und der sich heute an den Rändern schon leicht vergilbt zeigt, verkriecht sich förmlich darin. Sie hatte dieses Foto vor Jahren am Strand aus einer achtlos liegengelassenen Zeitschrift, die wohl einem Gringo gehört hatte, behutsam herausgelöst.

Blick auf Faaker See, Mittagskogel und Türkenkopf. Kärnten, Österreich.

Ist das vielleicht Amerika, vielleicht Deutschland? Italien? Die Sprache ist ihr fremd, bis heute. Doch das Bild für sich hat etwas an ihr unbekannter Frische, lässt förmlich klare Luft in die Baracke strömen. Es ist nichts Stickiges im Bild, nichts Faules, Modriges, nichts Wucherndes, Salzgeschwängertes. Eine reingewaschene Landschaft mit vergilbten Rändern, so putzig lieblich aufgeräumt und reingewaschen. Vielleicht sogar unwirklich.

So steht sie also am Gipfel des Berges, während es im Hier und Jetzt schon dämmert, und atmet eingebildete Frische, als sie das Geschrei und Gezeter eines Menschenauflaufs vor ihrer Hütte abrupt auf Meereshöhe und zurück in die Baixa Fria, die kalte Tiefe, einer Favela in Boca do Rio, der Flussmündung, Salvador, Bahia, Brasilien bringt. Sie steht auf, zupft sich ihre Haare zurecht, blickt kurz in den Spiegel, fährt sich mit der Zunge über ihre vollen Lippen, die, sie bemerkt es mit Erstaunen, trocken und kühl sind wie die Luft im Bild, und tritt ins Freie.

Als sie so dasteht und in die Menge blickt, wird es immer stiller. Sie spürt, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Da sind auch Antonio und Angelina, seine schwangere Frau. Angelina besuchte vor Jahren mit ihr gemeinsam einen von der Gemeinde angebotenen Nähkurs. Beide träumten damals davon, nach Beendigung des Kurses hübsche Kleider zu nähen, diese zu verkaufen und so vielleicht reich zu werden und die Welt zu bereisen. Kein Reisen allerdings, bevor nicht ein Haus mit vielen Zimmern und vielen Bädern in einem geschlossenen, rund um die Uhr bewachten Kondominium, mit Swimmingpool und Garage für mindestens drei Autos, ihr eigen sei. So wurde es beschlossen. Lachend. Aus der Kleiderkollektion wurde dann aber doch nichts, es fehlte das Geld zur Anschaffung einer Nähmaschine. Und als dann Angelina Antonio den Buschauffeur  kennenlernte, und sie Carlos den Busschaffner, wechselte auch der Traum. Die Liebe kam ins Spiel. Und alles änderte sich.

Emilda wundert sich, warum Antonio hier unter den Leuten ist. Er sollte doch eigentlich unterwegs sein um diese Zeit, seinen Bus steuern. Sie beginnt zu ahnen, dass Carlos der Grund des Auflaufs ist, sie sieht ihn nicht unter den Leuten. Angelina kommt auf sie zu, sanft vorgeschoben von Antonio, sein Haupt gesenkt. Als sich die beiden Frauen gegenüberstehen, bricht Angelina in Tränen aus und umarmt ihre Freundin. “Carlos ist tot, sie haben Carlos erschossen,” schluchzt sie Emilda ins Ohr. “Diese Hurensöhne!”, kommt es laut aus der Menge, “verfluchte Diebe, dreckige Köter, alles nur wegen ein paar lausigen Reais. In der Hölle werden sie braten, diese räudigen Hunde!” Die Stimmen mischen sich, der Sinn geht Emilda verloren, die Welt wird unförmig, die Töne rauschen. Sie hält sich ihren Bauch, nimmt Kontakt mit dem Teil von Carlos auf, das er ihr lebend zurücklässt, will es greifen und nie mehr, nie, nie mehr loslassen. Sie kann nicht weinen. Luft fehlt ihr. Antonio fängt ihren Körper auf, kurz bevor er ins offene Rinnsal geknallt wäre.

Emilda wacht auf und fühlt sich tot. Es stinkt, die Luft ist stickig heiß. Neben dem Bett sitzt Angelina, hält ihr die Hand und schaut sie mitleidsvoll an. Angelinas Augen sind rotgeweint, Antonio an ihrer Seite wirkt ratlos, versteinert. Carlos ist tot, sie haben Carlos erschossen. Diese Worte hämmern in Emilda, nehmen von ihr Besitz. Gott, Jesus Christus, sagt mir, dass ich träume. Lasst mich nicht in dieser Welt bleiben, weckt mich auf an Carlos’ Seite. Lasst es wieder gestern sein. Ja, bitte, lasst es gestern sein, bitte. Angelinas Antlitz verschwimmt und erlischt.

Es passierte schnell, überraschend, erzählt Antonio. Sie waren zu zweit. Eingestiegen sind sie an der Haltestelle Amaralina, Richtung Itapuan. Der Haltestelle nach dem Stand, an dem die Baianas ihr Acaraje verkaufen, ihr wisst schon. Er erinnere sich unter anderem deshalb so genau daran, da sich eine Frau beim Einsteigen an dieser Haltestelle im Kreisel vor Carlos’ Kasse verklemmte und mit Hilfe von Passagieren herausgezogen werden musste. Zumindest versuchte man es. Bis zu einem gewissen Punkt eine Geschichte zum Totlachen, eine groteske Situation war das. Die Frau war immens. Er schätze, so um die 135 Kilo. Wenn nicht mehr. Ihr Körper steckte fest, der Kreisel drehte sich weder vor noch zurück. Zuerst lachte die Frau noch dieses verlegene Lachen, es wird schon, es wird schon, doch nach fünf Minuten resultatlosem Herumgeschubse kam leichte Verzweiflung auf. Und wohl auch Schmerz. “Ah, meine Beine, meine Beine schwellen an. Um Gottes Willen, tut was, Leute!” Man kam gemeinsam mit hilfsbereiten Passagieren zum Schluss, dass es keine andere Möglichkeit gäbe, als den Kreisel am Fußpunkt, wo er verschraubt war, abzumontieren, zu zerlegen. Und bei diesem Akt ging einer der Banditen an die Hand. Dumm von ihm eigentlich, wenn man es sich genau überlegt, jetzt, im Nachhinein. Es war der kleinere der beiden. Hellhäutig, mit fetten Haaren. Bekleidet mit roten Adidasshorts und einem dreckigen weißen T-Shirt mit der Aufschrift ‘Jesus é o Senhor’. Ja, Jesus ist der Herr. Amen. Er war bereits durch den Kreisel durch, hatte bei Carlos eine Karte gelöst und sich hinter dem Fahrersitz niedergelassen. Als er sich bückte, um die Schrauben der Verankerung zu lösen, fiel der Revolver, den er unter seinem Shirt versteckt hatte, auf den Boden. Antonio habe den Revolver, es war ein abg-egriffener 38er, als erster gesehen und diesen schnell entschlossen wie einen Ball nach vorne geschossen. Zwei weitere Passagiere stürzten sich blitzschnell auf den Kleinen und versuchten ihn festzuhalten, als plötzlich ein magerer, hochgeschossener Mulatte mit freiem Oberkörper, der angelehnt neben Carlos’ Kasse sich bis jetzt das Schauspiel der Befreiung der Verklemmten angeschaut hatte, einen Schuss ins Busdach abfeuerte und laut schrie, dass dies ein Überfall, sein Partner loszulassen sei, und zwar sofort, und Carlos ihm das Geld aus der Kasse zu überreichen habe. Auch dies sofort. Es herrschte absolute Stille im Bus. Carlos habe seelenruhig die Münzen und Scheine zusammengehäuft, auch die Essensmarken, mit welchen ja viele hungrig ihre Busfahrt zahlen, und alles mit ruhiger Hand dem Hochgeschossenen in die von diesem hingehaltene Plastiktasche geschüttet. In der Zwischenzeit hatte sich der Kleine seinen Revolver wieder geholt und war bei der Vordertür ausgestiegen. Der Mulatte nahm die Tasche und begann rücklings hinten auszusteigen, mit der Drohung, dass sterbe, wer den Helden spielen wolle. Kaum hatte er den Satz zuende gesprochen, hörte man einen Schuss, dieses mit Metall überzogene Klatschen, das Klirren von splitterndem Glas. Antonio sah Carlos’ Kopf abrupt auf die Kasse nach vorne kippen. Sogar der hochgeschossene Mulatte erschrak. Es war der kleine weiße fetthaarige Hurensohn, der vom Gehsteig aus in den Bus gefeuert hatte. Die Kugel traf Carlos im Hinterkopf, er wolle sich jetzt Details ersparen, schön habe das Ganze nämlich nicht ausgesehen. Blut füllte die leere Kassenlade und tropfte dann auf den Fußboden, sammelte sich um den Kreisel, ließ die eingeklemmte Fettleibige in einem roten See stehen. Diese schrie jetzt hysterisch und versuchte ohne Erfolg, die Beine zu heben. Es war ein absolutes Durcheinander im Businneren, die Menschen drängten sich nach kurzer schweigsamer Schockphase ins Freie, trampelten sich beinahe gegenseitig nieder. Er selbst sei nur dagestanden und habe auf Carlos gestarrt, wie er so vornübergebeugt da saß und sein Blut verlor. Er habe gleich bemerkt, dass hier auch ein Arzt nicht mehr helfen könne. Eine halbe Stunde später kam dann die Polizei, die eingeklemmte Frau wurde, sie hing schlaff und ohnmächtig im Kreisel, von fünf kräftigen Männern aus dem Bus getragen und in den Schatten einer Kokospalme gelegt, wo sich eine der Baianerinnen ihrer annahm, ihr Kokosmilch einflößte und die Wangen streichelte. Carlos wurde lange Zeit in seinem Kassierersitz gelassen, es dauerte ewig, bis ein Leichenwagen kam. Er selbst, Antonio, habe telefonisch um Vertretung gebeten, er sehe sich außerstande, in die Zentralgarage zu fahren. Dies wurde ihm genehmigt, und so stieg er in den nächsten Bus und fuhr nach Hause. Er sei die Heimfahrt über selbst wie tot gewesen, konnte nichts fühlen, kam sich vor, als schwebe er körperlos den Strand entlang, seiner Baracke zu. Erst als er Angelina daheim die Nachricht überbrachte, schreckte ihn deren Reaktion wieder aus diesem halbschlafartigen Zustand heraus. Da haben sich dann beide aufgemacht, um Emilda die traurige Botschaft zu überbringen.

Zwei Wochen schon ohne Carlos. Zwei Wochen im Bett und keine Zeichen im Wandkalender. Sie müsse raus aus dem Bett, sich bewegen, könne doch nicht ewig so liegen bleiben und in die Ferne starren. Das Leben gehe schließlich weiter, sie solle an ihr Kind denken, das sie unter dem Herzen trage. Carlos’ Kind, sein Nachlass. Angelinas zureden hilft nichts. Tag für Tag verbringt sie am Bett ihrer Freundin, redet ihr gut zu, hält ihre Hand, macht ihr die Baracke sauber. Zum Unglück regnet es in Strömen schon seit Tagen. Es sind die Märzregen, die den Sommer beschließen, dieses Jahr besonders hartnäckig und ausgiebig. Der Gestank ist unerträglich um diese Zeit, dazu kommt, dass die Wassermassen Fäkalien von Tier und Mensch, all den Dreck der Baracken den Hügel herunterschwemmen. Zum Teil dringt dieses stinkende, schleimige Gemisch in Emildas Baracke, immer schon war es so, doch diesmal ist es Angelina, die versucht, die Rinnsale umzuleiten. Emilda liegt regungslos, starrt an die Wand, den ausgegilbten Zeitschriftenausschnitt an.

“Ist das hier das Haus von Carlos Alberto Santos de Jesus? Hallo, jemand zu Hause?” Es hat zu regnen aufgehört. Gestern schon, Gott sei’s gedankt. Die Hitze und Schwüle ist besser zu ertragen als diese Himmelsweinereien, diese den Sommer abschließenden Tränen, die der Favela nur Dreck bringen und auch sehr oft den Tod. Dreimal klopft Emilda auf die Holzplatte. Kein Erdrutsch in all den Jahren in näherer Umgebung. Keine verschütteten Familien, keine Verluste von Freunden und liebgewonnen Nachbarn. Der Regen ging gestern und Emilda erhob sich mit dem letzten fallenden Tropfen. Sie fühlte sich leer, wie ausgewaschen, doch sehr lebendig, irgendwie leicht. Auch heute lebt sie diesen Zustand sehr bewusst, es gibt keine Trauer, aber auch keine Freude. Als sie jetzt den vollen Namen Carlos’ rufen hört, sticht dies nicht in ihr Herz. Carlos ist nicht abgetrennt von ihr, immer noch ihr Mann. Wenn er auch unter der Erde ist jetzt, begraben ohne ihr Beisein bei der Zeremonie, denn sie wollte keine Bilder davon mit in die Zukunft nehmen, er ist ihr Mann, und das bleibt er, wird er immer sein. So sieht sie es, und basta. “Wer ist es denn, der mit Carlos sprechen will?” ruft sie, ohne dabei den Kochlöffel aus der Hand zu legen, das Umrühren der kochenden Bohnen zu unterbrechen. Er komme von der Busunion und habe einen Brief der Direktion, den er übergeben möchte. Ob er reinkommen dürfe? Wortlos legt Emilda den Kochlöffel zur Seite, dreht die Gasflamme auf die kleinste Stufe zurück, wischt sich die Hände an der Schürze ab, sanft gleiten sie über den straffen Bauch, und geht hinaus.

Salvador am 20. 03. 1998
Sehr geehrte Frau Emilda –
der durch einen Überfall am 26 / 02 / 1998 entstandene Teilverdienstentgang auf der Linie Rio das Pedras R1 beträgt nach den vorliegenden Erfahrungswerten unserer Statistikabteilung 375,00 R$ (dreihundertfünfundziebzig Reais).
Bitte zahlen Sie diesen Betrag innerhalb der auf der beiliegenden roten Zahlkarte ausgewiesenen Frist bei einer der auf der Rückseite derselben angeführten Banken ein.
Wir eröffnen Ihnen auch die Möglichkeit einer Zahlung in 3 Raten zu je 165,00 R$ (einhundertfünfundvierzig Reais). Verwenden Sie dazu bitte die drei grünen Zahlkarten.
Bei Nichteinhaltung der angegebenen Zahlungsfrist/en verrechnen wir eine Verzinsung von 16,5 % pro Monat sowie eine zusätzliche Strafe von 15,00 R$.
Hochachtungsvoll
Esperança Buslinien

“Glaubst du, soll ich auch meinen Badeanzug einpacken? Der See sieht jedenfalls auf dem Bild sehr einladend zum Baden aus, und die Menschen dort werden wohl auch gerne zum Strand gehen. Am Wochenende zumindest. Ob er aber nicht doch ein wenig zu freizügig ist, vielleicht wär’s besser, sich dann einen ortsüblichen zu kaufen? Glaubst du, die Frauen dort lieben es auch, ihre Arschbacken herzuzeigen am Strand? Ach was, ich nehm ihn mit.”

“Ich kann’s noch immer nicht glauben,” sagt Angelina. “Diese verfluchten, dreckigen Arschlöcher. Du solltest zur Zeitung und die Geschichte öffentlich machen. Sowas ist doch unerhört, eine Grausamkeit sondergleichen. Unglaublich.”

“Sie kriegen’s eh nicht, diese stinkenden Hurensöhne. Und ich bin ihnen auch irgendwie dankbar, denn diese teuflische Forderung macht mir die Tür zu einem neuen, besseren Leben auf. Auch dort wird es Familien geben, die jemand wie mich brauchen, um ihnen die Wäsche zu waschen, zu bügeln, den Haushalt zu führen. Es sieht alles so nett aus, so gepflegt, so aufgeräumt, findest du nicht?! Wie wohl die Menschen dort sind?”

“Wer weiß, vielleicht sind sie eingebildet, hochnäsig, dumm, mögen keine Negerinnen, haben Angst vor schwarzen Menschen, machen alles selbst, waschen ihre Wäsche selbst, kochen selbst, räumen selbst auf,” wirft Angelina ein.

“Das wär mir egal, sie werden ja auch Kinder haben und wohl auch arbeiten, nehm ich an, und so nicht die Zeit haben, den ganzen Tag über ein Auge auf ihre Sprösslinge zu werfen. Sie werden mich brauchen, auch wenn sie weiß sind. Wenn sie mich nicht ihre Unterhosen bügeln lassen, dann pass ich eben auf ihre Brut auf und verhätschel sie, sing ihnen unsre Lieder vor, erweitere ihren Horizont, erzähl ihnen vom wilden, schönen Bahia und auch von der Baixa Fria, sowas kennen die wahrscheinlich gar nicht. Ich seh da nämlich keine Favela auf dem Foto, und das ermutigt mich noch mehr, endlich aus diesem stinkenden dreckigen Loch hier rauszugehen. Von Geburt an hier, das reicht jetzt. Ich mag mich nicht mehr in dieser Baracke schlafen legen, ich will nicht mehr in ihr aufwachen. Und den Gestank halt ich auch nicht mehr aus. Er kommt ja schon in Briefen mit, soweit sind wir schon!” Da lachen dann beide lauthals.

Emilda verspricht Angelina, sie nachzuholen, sobald sie angekommen sei. Und Angelina glaubt fest daran. Auch Antonio würde mitkommen. Dies habe er beschlossen, nachdem vor Tagen schon Angelina ihm Emildas Pläne eröffnete. Zuerst lachte er noch über die Neuigkeit, dachte, es sei ein Spaß. “Gott, sie ist schon mehr nach Bagdad rüber als hier,” sagte er noch. Doch als dann Angelina ihm versicherte, dass Emilda bereits ihre Sachen packe und von ihrer Idee nicht abzubringen sei, da begann auch Antonio, ein wenig vom Leben in der Ferne zu träumen, sah sich einen Omnibus steuern, wie er ihn einmal in einer Fernsehdokumentation gesehen hatte – rot und zweistöckig. “So ein Ding werd ich dann fahren, so der Herr da oben will,” murmelt Antonio vor sich hin und schnappt sich eine weitere Bierdose.

“Ich will, dass Carlos junior dort geboren wird, am Fuße dieses Berges, am Ufer des Sees, seinen ersten Atemzug wird er dort tun. Ich weiß, dass ich ankommen werde, jeder Schritt, den ich von heut an tu, ist einer in diese Richtung. Ich werde das Ziel nicht verfehlen. Ich weiß das. In der Tiefe meines Herzens spür ich es. Ich werde ankommen. Und ihr braucht mir dann nur mehr zu folgen. Wir machen dann einmal im Jahr Ferien hier im schönen Bahia, ja?! Und noch einmal, ich will nicht, dass ihr mich zur Bushaltestelle begleitet.”

Da steht Emilda jetzt vor Antonio und Angelina, ein mit abgewetzten Abziehbildern beklebter kleiner Pappkoffer neben ihr. “Ihr könnt, wenn ihr wollt, meine Baracke ausschlachten. Nehmt, was ihr braucht. Das Dach ist ok, die Eternitplatten kaum durchlöchert. Oder vermietet sie, wenn ihr wollt, das gibt wenigstens ein paar Reais pro Monat ab. Ich hab alles für mich Nötige im Koffer und hier –” sie streichelt in runden Bewegungen über ihren offen zur Schau gestellten Bauch, der leuchtet wie polierte Lava, und lächelt genüsslich. Dann breitet sie die Arme aus, schaut zum Himmel auf, atmet schnaufend aus, und lacht schallend. “Mein Gott, wie bin ich glücklich!” Dann küsst und umarmt sie Angelina, küsst und umarmt Antonio, nimmt ihren Koffer und geht, ohne ein weiteres Wort zu sagen, los.

“Oh Gott, wird sie sich umdrehen?” fragt Angelina, die Hand vorm Mund.

“Nein,” sagt Antonio nach einer Weile, “sie glaubt, sie geht nach Hause.”

FIM

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