Sylvia Petter

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Anna und das Exil der Seele

Es war einmal. So fingen früher Geschichten immer an. Heute sollen sie so wahr wie möglich sein. Ich habe immer der Autobiografie misstraut. Wer sagt mir, dass sie die Wahrheit erzählt? Der Erzähler? Na ja. Geschichten halt. Auch wenn sie wahr sind? Erinnerungen lügen auch beim besten Willen des Erzählers. Und was ist eigentlich wahr, wenn man nirgends hingehört und keinen eigentlichen Ausgangspunkt hat? Und was ist, wenn dies wurscht ist? Und so zur Geschichte.

Es war einmal ein kleines Mädchen, das keine Muttersprache hatte. Die Sprache ihrer Mutter war nicht die ihre, oder vielleicht doch? Wer kann sich so weit zurück erinnern? Es sind die Erinnerungen der Anderen, die erzählt werden, und bald fängt man an zu glauben, dass es die Eigenen sind.

Das Mädchen sprach Englisch. Na ja, es gab eine Zeit, da verstand sie kein Englisch, mit vier Jahren angeblich; es gab einen Tag an dem sie, als Fee verkleidet, den Preis, der einer anderen Fee bestimmt war, einfach an sich riss, und trotz aller logischen Einwände der erwachsenen Welt und aller emotionalen der anderen Fee, einfach nicht loslassen wollte. Das war die einzige sprachmissbräuchliche Ausschweifung der Anna – nennen wir sie halt Anna, da das Kind doch ein Namen braucht.

Anna sprach Englisch. Vielleicht hatte sie auch einen kleinen Akzent, da ihre Eltern doch Deutsch sprachen, bevor sie mit ihr nach Australien auswanderten, als Anna ein, zwei, oder drei Jahre alt war. Es muss einen Akzent gegeben haben. Oder war Mary Bradock, Drittgenerationsaustralierin englisch-keltischer Abstammung  – Urenkelin derjenigen, die als Verbrecher in die Strafkolonie geschickt wurden – nur neidisch, dass Anna viel besser Tennis spielte – Anna trainierte ja immerhin jeden Tag ihre Schläge gegen die Schulmauer. „Dirty Nazi,“ pfauchte Mary.

Anna wusste nicht, was Mary meinte, aber etwas rührte sich in Annas Herzen, oder vielleicht war es in ihrer Seele, oder an jenem Fleck des Inneren, wo sich Gemeinschaftserinnerungen – heißen sie so? – versteckten, um eines Tages wider Erwarten ihre Häupter zu erheben.

„Was ist ein Nazi“, fragte Anna ihre Mutter, auf Englisch versteht sich. Die Antwort kam nicht: nur ein wo? Wann? Wer? Weshalb? Anna schwieg und dachte: „Nichts.“ Ja, sie dachte auf Deutsch, und dann sagte sie auf Englisch: „It’s OK.“ Und so blieb es, OK, bis Anna 16 war und ohne es erklären zu können, ein Verlangen spürte, nach Berwang zu fahren. Berwang? Was tut Berwang mitten im Herzen von Sydneys buschumrandeten Wohngebieten? Berwang, ein Dorf in Tirol – na ja, die Erinnerungen. Dort war Anna glücklich gewesen. Wie sie das wusste, war ihr nicht klar. Vielleicht hatte es ihre österreichische Großmutter erzählt, als sie auf Besuch in Australien war. Anna war damals neun Jahre alt, oder acht? Komisch, dass sie nicht früher an ihre Großmutter gedacht hatte. Anna mochte die alte Frau nicht. Anna verstand ihre Sprache nicht und konnte nicht verstehen, dass sie immerwährend Schwarz trug – australische Großmütter trugen Bermudahosen in der Weinachtshitze. Anna vermutete, dass ihre Großmutter bald zu einer schwarzen Pfütze zerschmelzen musste. Komisch, was sich man einbildet.

Eins aber hatte die Oma aus Österreich: ein Superbett. Da konnte man so hoch darauf springen. Vielleicht war es doch die Oma, die erzählt hatte, wie glücklich Anna in Berwang gewesen war, oder war es Annas Mutter? Da gab’s Geschichten von Anna: Abdrücke von Zähnen und Nase in dem riesigen Laib Butter, der auf einem Stein im Keller der Mühle kühlgelagert wurde. Eine Mühle? Ja, Anna wohnte in einer Mühle in Berwang. Und im Sommer lief Anna nackt herum, nachdem man ihre Kleidungsstücke, eines nach dem anderen, in den Bergfeldern fand. Schon damals bereitete sie sich vielleicht auf die Hitze in Australien vor? Die heile Welt, das war Berwang. Bis zu dem Zeitpunkt als Annas Vater auswanderte. Aber wo waren wir? Anna ist ja schon Australierin, ist sechzehn, und sehnt sich nach Berwang. Aber daraus wird nichts. Sie ist zu jung, um allein nach Österreich zu fahren. Wart’ ab. Mit neunzehn war’s so weit. Aber Berwang war längst vergessen. So schnell geht das. Ich will nach Wien, sagte Anna. Warte bis 21, sagte ihr Vater. Ich verliere mein Leben, denkt sie. So denkt man, wenn man jung ist. Zwei Jahre sind eine Ewigkeit, die man nicht überleben wird. Annas Deutsch war holprig so studierte sie noch „Accelerated German“ und ließ manche Grammatikregeln aus. Schiller und Goethe konnte sie herunterrasseln. Na ja, einige Strophen der Glocke, und ein gewisses Zitat, das so locker von der Zunge rollte. Und mit 19, fast 20, ging’s ab nach Wien.

In Wien half Schiller wenig. Die Leute sprachen ganz anders, als in ihrem Deutschkurs in Sydney. Immerhin war ihr Lehrer ein Deutscher aus Südafrika gewesen, nach Australien ausgewandert, als seine Lieblingsstudentin sich wegen der Apartheid das Leben genommen hatte. Anna verstand anfangs nichts von Apartheid. Bis zu dem Tag, als eine Trafikantin fragte:
– Bist Du Jugoslawin?
– Nein. Australierin.
– Glaube ich nicht.
– Ist aber so.
– Tschusch.
Wann war das? 1969.

1969 studierte Anna Deutsch für Ausländer am Dolmetschinstitut. Die anderen Mädchen, es gab ja hauptsächlich Mädchen, trugen Pelzmäntel in Winter, sogar die tschechischen Asylantinnen trugen Pelzmäntel. Wie ging das? Man sagte, dass sie Pelzmäntel trugen, um einen Jusstudenten aus gutem Haus kennen zu lernen, die anderen, die Asylantinnen, hatten schon ihre Gönner gefunden. Anna verliebte sich in einen Arbeiter, einen Wiener, und zog zu ihm nach Favoriten. Dort wohnten sie in einer Zimmerküche mit Klo am Gang, und waren glücklich. Ich brauch’ ein dreifach zusammengesetztes Hauptwort für morgen, sagte Anna eines Abends. Nudelkopfauge. Was ist das? Schau dir ein Spaghetti an. Aha. Nudelkopfauge, Herr Professor, sagte Anna am nächsten Tag. Der Professor war entsetzt. Es war nur ein Spaß, sagte Annas Freund. Lern’ lieber Wienerisch.

Wienerisch kam dann ein bisschen von allein. Anna verstand fast alles, konnte aber nicht ihre Zunge um das Wort „Wollknäuel“ schlingen. Ich bleibe immer Apartheid, dachte sie. Du musst in Wien geboren sein, um Wienerisch richtig sprechen zu können. Ich bin in Wien geboren. Meine Zunge krieg’ ich nicht herum. Schade. Ja schade. Und langsam fing Anna an, in Wien zu ersticken. Die Stadt war grau wie Filz und drohte sie zu verschlucken. Raus. Ich muss weg. Komm mit, sagte sie ihrer Liebe. Wohin? Wurscht. Wurscht wohin. Sie zogen nach Frankreich. Jetzt weisst du wie es ist Ausländer zu sein, sagte sie ihrem Freund.

Ein Leben ging vorbei – zuerst mit dem Geklapper von Stöckelschuhen und dann gemächlich auf leisen Sohlen; Anna bekam ein Kind, das Kind wurde groß und ging nach Australien. Anna kehrte zurück nach Wien. Na ja. So einfach war es nicht. Schnupperreisen voraus. Wien hatte eine U-Bahn. Alles über der Donau war nicht mehr so schlimm wie in den Sechzigern. Wien hatte eine Jugend entdeckt, hatte Stil. War sich endlich im Klaren über die Nach-Waldheim Richtung. Es gab die EU. Keiner fragte, ob sie Jugoslawin sei. Es gab kein Jugoslawien mehr. Die Leut’ haben andere Probleme. Aber Anna stört’s nicht, die Sache mit den Kopftüchern. Sollen die Leute tragen, was sie wollen. Alle Frauen, überhaupt alle Omas, trugen Kopftücher in den Sechzigern. Es gab Plakate: „Daham statt Islam“. Komisch. Wo ist „Daham“? Anna hat keine Ahnung. Vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig. Die Grenzen des „Apartheid“ fingen schon an, sich zu verwischen.

Anna ist nun alt und lebt an der Grenze zweier Heimaten – Australien, Österreich – Austria, Australia – heiß, kalt, oben und „Under“. In Wien lässt’s sich leben, in Wien lässt’s sich sterben. Aber was soll das? Alle Geschichten die mit „Es war einmal“ anfangen, brauchen ein „happy end“. Nur dazwischen kann sich im Nachhinein vieles ändern. Prost, sagt Anna und hebt ihr Achtel. Prost Wien!
Prost, Anna, sage ich.

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