Erika Kronabitter

Zeitgenössische österreichische Literatur

Die Verpackerin

Die Fremde wird nicht zur Heimat, nur weil man hier Arbeit hat. Man vergisst die Trauer, ein Flor, der sich über die Gedanken legt, eine Gedankenverwehung. Schwebende Blütensamen, der sich zwischen dem Haar verfängt. Die Sehnsucht bleibt. Wie lange sie schon in diesem Land lebte, wusste sie nicht genau. Dumpfe Nächte waren es, Aufgeregtheit, angstvolle, über so viel eigenen Mut. Ganz am Anfang hatte sie noch gezählt, die traurigen Tage, die anstrengenden, an denen sie zur Arbeit ging, Tag um Tag um Tag, aus denen Wochen wurden, Wochen, Wochen, Monate.

„Warum bist du gekommen?“ „Warum bleibst du?“ wurde sie gefragt. Auch das wusste sie nicht genau. Antwort zu geben ist kompliziert. War es nur das Geld oder war es noch etwas anderes, warum sie geblieben war?

Ein warmer Wind hatte übers Land gestürmt, in alle Ritzen und Ecken. Sie hatte an zu Hause gedacht. An die Großmutter und an die Eltern. Hatte sich ins Vertraute zurückgesehnt. Ins Vertraute gesehnt und an die Zukunft geklammert. Zukunft war Neues. Etwas unbestimmtes Neues. Etwas, das hier passieren konnte. Von dem sie sich erhoffte, dass es sich ereignen würde. Darum war sie wohl geblieben.  Es gibt immer Gründe, warum etwas ist. Auch das Bleiben hat seine Gründe. Das Gehen und das Bleiben.

Der Wind hatte die Bäume geschüttelt, die sich aufbäumten, ein wildes Aufbäumen. Als ob sie sich am fliehenden Himmel festkrallen wollten. Demütig  die Sträucher, die sich zu Boden bogen. Kein Trillern der Vögel durchbrach das Zurren und Knurren, nur ein tiefes Brausen, ein lautes Singen. Am Himmel flitzen als Wolken getarnte Segelschiffe, jagten über einen Himmel, der so grellblau war, als ob die Erde von riesigen Leuchtbuchstaben zusammengehalten worden wäre.

Dann setzte der Regen ein. Die Bäume hatten bei ihrem Kampf viele Blätter verloren, blattlos und widerspenstig stand das Dickicht an den Strassenrändern und tropfte und strotzte voll Widerstand.

Inzwischen hatte sie aufgehört zu zählen. Tage waren es schon zu viele. Wie oft war sie aufgewacht, eingeschlafen in diesem fremden Land, das sie nicht gerufen hatte, das sie sich selbst ausgesucht hatte. Das sie langsam ein wenig kennen gelernt hatte und in dem sie sich immer sicherer bewegte. Es gab Menschen aus ihrem Heimatland, mit denen sie sprechen konnte. Bei denen sie wohnte.

Die Sprache des Neuen verstand sie noch immer nicht, sie hatte bereits drei Sprachkurse gemacht, natürlich wollte sie die Sprache des Landes sprechen, aber es waren Halbkurse, denn oft war sie zu müde gewesen, oft hatte sie zu lange arbeiten müssen. Immer wieder begann sie mit dem Grundkurs, um die Wörter endlich, endlich im Klang der Einheimischen sprechen zu können.

„Du nix…Du wollen…Du müssen.“ So durfte sie nicht sprechen. Das kennzeichnete sie als Fremde. Ihre kamelbraune Haut leuchtete bronzen und so wie sie die Menschen hier von jenen ihres Landes unterscheiden konnte, so sicher wurde auch sie als Fremde erkannt und angesprochen. Man sprach sie anders an als sich die Menschen untereinander ansprachen. Sie bemühte sich trotzdem, in ganzen Sätzen zu denken. In ganzen Sätzen zu sprechen. Man blieb abwartend. Eine Zurückhaltung, die ihre Großmutter als Zurückweisung bezeichnet hätte, war in den Gesichtern der Menschen zu lesen.

Eines Nachts hatte der Schnee alles zugedeckt und sie wusste, es war nun fast ein Jahr, das sie hier lebte und arbeitete und arbeitete und alles verlief und lief und verlief. Und die Traurigkeit war verlaufen und die Sehnsucht war verlaufen. Sie arbeitete und arbeitete. Der Arbeitsplatz war ihr Brunnen, der Brunnen, der das Wasser gab in Form von Geld. Von dem sie einen Grossteil an die Eltern schickte. Und sie arbeitete und telefonierte und sprach bei ihren Telefongesprächen von einem Besuch, einem baldigen Besuch, von dem sie wusste, dass es ein ferner Besuch war, ein Besuch, der irgendwann in der Ferne lag.

Im vierten Sprachkurs, der immer noch der Grundkurs war, wurde sie von der Lehrerin angesprochen, die sie näher kennen lernen wollte, mehr wissen wollte über ihre Herkunft, über die Eltern, „Sie sind ja noch so jung“ und „Fühlen Sie sich nicht einsam“ und „Heute sehen Sie aber sehr müde aus“ und der sie erzählte von den vielen Stunden Arbeit und ihrer Müdigkeit, die alle Tränen weggemacht hatte und dem Willen, später zu Hause in der Nähe der Eltern eine kleine Wohnung zu besitzen, in der Stadt natürlich oder ein kleines Geschäft. Und ihre Augen wurden gross beim Erzählen von den Träumen und von den Plänen und wurden nach dem Kurs, dann bei der Arbeit, zwischen den Speiseresten, dem süß-sauren Hühnchen und der Peking-Ente wieder matt und klein und waren spätnachts beziehungsweise früh morgens, wenn alles wieder aufgeräumt, das Geschirr gewaschen und die Tische für den nächsten Tag frisch gedeckt waren, wenn sie endlich heimgehen konnte, tot.

Erst an ihrer nächsten Arbeitsstelle, die ihr die Sprachlehrerin vermittelt hatte, war ihre Lust am Leben wieder erwacht.

Nicht nur, dass sie als Verpackerin viel mehr verdiente als je zuvor. Ihre eigenen Landsmänner hatten sie als billige Arbeitskraft missbraucht, hatten sie um das Trinkgeld betrogen. Um viele Stunden, die sie gearbeitet hatte, die sie mehr gearbeitet hatte, weil so viele Gäste im Lokal gewesen waren, weil diese weit über die Sperrstunde hinaus an den Tischen gesessen waren und Pflaumenwein und Reiswein getrunken hatten, um all diese Mehrstunden hatte man sie betrogen. Niemand, der davon gesprochen hätte. Die Chefin sprach genauso nicht davon wie ihr Chef nicht darüber sprach. Weder, dass sie einmal hätte früher nach Hause gehen dürfen, noch, dass ihr mehr Lohn ausbezahlt worden wäre. Es war so, dass die Chefin auch das Trinkgeld für sich einbehielt.

Und sie selbst hatte niemanden, den sie fragen konnte, wie dies eigentlich sei. Und warum sie immer so müde sei und ob die anderen ebenfalls diese Müdigkeit spürten.

Wenn sie im Nachhinein darüber nachdachte, hatte sie schon deshalb nicht gefragt, weil sie diese Frage gar nicht gedacht hatte. Weil sie gar nicht über ihren Lohn oder ihre Arbeit nachgedacht hatte, sondern lediglich immer daran, schlafen zu wollen.

Nicht nur, dass sie also an dieser neuen Arbeitsstelle viel mehr verdiente, sondern die vielen Stoffe und Farben waren eine Augenweide, weiteten ihre Augen, sie spürte die Weichheit, hörte die Geräusche, wenn sie über die Wolle strich, über Tüll, über Seide. Hörte beim Streicheln der Stoffe den mongolischen Atem des Windes, sie packte BHs in kleine Nylonsäckchen, etikettierte und ordnete sie, Slips, Shirts, Pullover, Röcke, Hosen, Kleider. Strümpfe, Handschuhe, Socken, Mützen. Es waren bunte Farben, Tupfen, Streifen, gelocht, bedruckt, gewebt und bei manchen Stoffen erinnerte sie sich an die bunten Stoffe in Großmutters Jurte, erinnerte sich an die Großmutter, die sicher in der Jurte sass und eines der bunten Kopftücher bestickte.

Großmutter wollte es sich nicht nehmen lassen. Dort war sie gross geworden und hier wolle sie auch sterben, sagte sie und niemand, auch nicht die besten Überredungskünste ihrer Tochter, hatte sie überzeugen können, dass ein Leben in einem Steinhaus, in der Nähe der Stadt um so vieles komfortabler wäre, so viel sicherer, bei Krankheit viel schneller der Arzt oder medizinische Hilfe geholt werden könnte.

„Jeder muss sterben,“ sagte Großmutter. „Ich möchte das Stampfen des Pferdes hören und nicht das Stampfen der Maschinen, ich möchte vom Blöken der Schafe geweckt werden und vom Atem der Kamele. Und abends möchte ich da drüben die Sonne im Gold der Hügel versinken sehen und nicht von den dunklen Dämonen der Hochhäuser erdrückt werden.“

Es war Frühling geworden, die Kirschblüten leuchteten wie Brautkleider an den Bäumen. Die Kirschen reiften und später die Äpfel, die Birnen, wilde Gewitter zogen übers Land, Blitze und Regen peitschten über den Himmel. Dann wurden auf manchen Feldern Kartoffelfeuer gemacht, es kamen wieder die Herbststürme mit gewaltigen Wolkenbergen und Schnee, Schnee. Schnee. Die Menschen arbeiteten in den Städten und fuhren in ihrer Freizeit aufs Land. Und umgekehrt.

So kamen die Jahre und gingen, kamen neue und gingen und Uyaanga packte die BHs und die Slips, T-Shirts und Shorts, Röcke, Kleider und Hosen in Nylonsäckchen, etikettierte und ordnete sie, je nach Bestellscheinen in kleinere und grössere Päckchen, je nachdem, wieviele Artikel der jeweilige Besteller in Auftrag gegeben hatte. Abends streunte sie durch das Lager, betrachtete und prüfte die eingelangte Ware. Strich mit der Hand über ein Material, das sie besonders anziehend und unwiderstehlich fand. Und immer wieder kam es vor, dass sie für sich selbst ein Kleidungsstück kaufte. Dann kam es vor, dass sie am nächsten Tag gerade jenen BH trug, den eine Kundschaft auf ihrer Bestelliste hatte. Sie stellte sich die Frau vor, die bald den gleichen BH wie sie tragen würde, dachte über ihre Haarfarbe nach oder ihre Augenfarbe, an die Hautfarbe oder ob sie schlank oder dick, jung oder alt sei, ob es ein kleiner Busen sei, der mit diesem BH ins Licht gehoben wurde, zum Anblicken ins Licht gerückt oder ein überquellender, der in viel grössere Körbchen gesteckt gehörte.

Anhand der Namen konnte sie unterscheiden, ob eine Frau oder ein Mann der Adressat des Paketes war. Sie bemerkte, dass es meist Frauen waren, die als Empfängerinnen der bestellten Kleidungsstücke aufschienen.

Immer wieder kam es vor, dass ein bestellter Artikel nicht im Lager war und auch nicht mehr geliefert wurde, in der nächsten Zweigstelle nicht mehr erhältlich. Sie stellte sich die enttäuschten Gesichter vor. Die Enttäuschung, wenn dieses T-Shirt oder jener Pulli nicht im Paket war, die Schuhe fehlten, die in derselben Farbe zu einem Kleid bestellt worden waren oder die passende Handtasche nicht mitgeliefert wurde.

Eines Tages beschloss die Verpackerin Uyaanga, den BestellerInnen Ersatzstücke zu liefern. Anhand der Bestellung wusste sie bereits, ob es sich um eine zierliche oder kräftigere Frau handelte, die dieses Kleidungsstück tragen würde. War ein Pullover nicht lieferbar, suchte sie im kompletten Angebotssortiment nach dem am ähnlichsten Stück oder aber, und dazu ging sie später mehr und mehr über, sie wählte ein konträres Stück, das sie der Kundschaft lieferte. Manch einer Kundin legte sie ein enges T-Shirt bei, obwohl diese eine locker-weite Bluse bestellt hatte, für manche Frau, die ein langes Kleid bestellt hatte, wählte die Verpackerin ein kurzes in derselben Grösse aus.

Die Pakete kamen zurück. „Fehllieferung“ stand da oder „Falsche Ware“ . Auf den Rücksendeformularen war die Rubrik „Entspricht nicht dem bestellten Artikel“ angekreuzt. In manchen Paketen lagen Briefe, Verärgerungen, gar Beschuldigungen. Die MitarbeiterInnen der Versandabteilung sollten besser arbeiten, seien faul, sollten sich bei der Arbeit konzentrieren. Uyaanga bezog die Anschuldigungen auf sich. Natürlich bezog sie alles auf sich. Sie war es auch, die die Pakete versendet hatte. Sie solle sich in ihrer Abteilung zusammenreissen, diese Unkonzentriertheit sei eine Frechheit und allerlei Erbosungen und Beschimpfungen musste sie über sich ergehen lassen. Wohin hätte sie mit dem Schreiben auch gehen sollen? Sie hatte doch selbst die Ersatzlieferungen durchgeführt, über die sich die Kundinnen nun so sehr aufregten, hatte die Sendung vorgenommen ohne Aufforderung durch die Kundschaft und ohne Aufforderung durch den Chef.

Was du mit der einen Hand nicht geben kannst, gib mit der anderen, dachte sie. Sie hatte Enttäuschungen vermeiden wollen. Es war falsch herausgekommen. Niemand fühlte sich getröstet durch den Ersatz, niemand wolle etwas anderes als genau jenes, das auf den Bestellscheinen notiert war. Lange sass sie abends über den Briefen. Es waren zurückweisende Briefe. Wenn der Schnee die Blumen verdeckt, male die Sonne.

In Gedanken sprach sie mit den Menschen, die ihr diese Briefe geschrieben hatten. Sie begann, ihre Gedanken aufzuschreiben. Erklärungen. In ganzen Sätzen. In langen Sätzen.

„Liebe Kundin Martina Wanko,“ schrieb sie. „Sie haben einen Pullover bestellt. Grösse 40, karminfarben, aus leichter Baumwolle. Dieser Pullover ist nicht mehr lieferbar. Und ein Kleid derselben Grösse, sonnenblumengelb, ein Baumwoll-Leinen-Gemisch mit Knittereffekt. Da unsere Firma den Pullover nicht mehr liefern kann, habe ich für Sie ein anderes Stück aus unserem Angebot ausgesucht.“

Die Briefe zeigte sie vor dem Absenden ihrer Lehrerin. Die war zufrieden, machte hin und wieder eine Anmerkung, verbesserte den Satz oder die Wortstellung. „Das werden wunderbare Geschichten,“ sagte sie und gab ihr die verbesserten Briefe zurück. Aber es waren keine Geschichten, die sie schreiben wollte. Es waren Gespräche mit ihren Kundinnen. Erklärungen warum und wieso.

„Aus dem großen Angebot, das unsere Firma anzubieten hat, habe ich daher diese rote Jacke für Sie gewählt. Eine zarte Seidenjacke, die knistert wie ein Windhauch im Steppengras, das Morgenrot der Jacke wird sich über das Sonnenblumenkleid legen und Sie mit einer leichten Sehnsucht nach der Ferne erfüllen.“

„Liebe Kundin,“ schrieb sie ein anderes Mal. „Das Kleid in der gewünschten dunkelblauen Farbe ist nicht mehr lieferbar. Als Ersatz biete ich Ihnen ein Kleid in der Farbe des mongolischen Himmels an. Es ist der Abendhimmel, kurz vor dem Sonnenuntergang. Der Himmel meiner Heimat färbt sich abends weit drüben am Horizont in jene Farben, die dieses Kleid besitzt. Ich wünsche Ihnen damit viel Freude, Wärme und die unbegrenzte Freiheit.“

„Diese Unterwäsche ist zwar nicht die von Ihnen bestellte,“ schrieb sie in einem weiteren Begleitbrief, „Sie werden jedoch die Hitze des Feuers spüren und verbreiten. Die Abschlüsse des Slips sind so gearbeitet, als ob Sie Ihr Liebster umfasst und das Oberteil bietet genau jene Offenheit, damit Ihr Busen seinen zarten Duft verströmen kann. Ihre Verpackerin.“

Statt Rücksendepaketen mit der Aufschrift „Fehllieferung“, „Falsche Ware“ oder Rücksendeformularen mit „Entspricht nicht dem bestellten Artikel“ erhielt Uyaanga nun hand- und computergeschriebene Briefe, adressiert an ihre Firma. Mit dem Zusatz „An die Verpackerin“. Das Büro leitete die Briefe ungeöffnet weiter.

Dankesbriefe, Sehnsuchtsbriefe, Hoffnungsbriefe waren es. Die Menschen bedankten sich für das Schreiben und schrieben wundersame Sätze. Sie erzählten davon, dass das Kleidungsstück, das sie nicht bestellt hatten, ihr Lieblingskleidungsstück geworden sei. Kleine Episoden, die sie mit dem Kleidungsstück schon erlebt hatten, schickten Gedanken und Gedichte über das Beengtsein und die Weite. Über den großen Himmel, der tief ins Innerste reicht. Eines Tages erhielt sie eine Bestellung mit dem Satz: „Senden Sie mir ein Kleid nach Ihrer Wahl. Grösse 38.“ Dies war unüblich. Die Verpackerin setzte sich vor den Brief, betrachtete den Satz. Betrachtete die Unterschrift und liess das Bild der Kundin in sich auferstehen. Machte sich eine Vorstellung von einer Frau mit kurzem Haar und schmalem Gesicht. Oder sie stellte sich eine breithüftige Frau vor, mit dunklen Locken. Immer öfter erhielt die Verpackerin Bestellungen mit diesem Satz.

Das Unübliche wurde immer üblicher.

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