Martina Sinowatz

Der Daumen des Vaters

Eigentlich weiß ich gar nicht, was meine Heimat ist. Bosnien oder Serbien, Serbien oder Bosnien?

Geboren bin ich in Bosnien. Dort verbrachte ich meine ersten Lebensjahre und alle Verwandten, Freundinnen und Freunde lebten dort. Mein Vater hatte seinen Betrieb auf der serbischen Seite und baute dort ein Haus, in das wir einzogen. Bald hatten wir auch in Serbien Freundinnen und Freunde.

Dann begann der Krieg. Mein Vater sollte als Soldat kämpfen und sich entscheiden, für wen: Bosnien oder Serbien, Serbien oder Bosnien.

Die Brücke über die Drina, die beides verband, wurde zerstört.
Meine Großmutter kam oft zum uns gegenüberliegenden Flussufer. Wenn wir es spürten, gingen auch wir zum Fluss, sahen sie dort drüben stehen, uns zuwinkend. Wir winkten zurück und weinten.

Eines Nachmittags stiegen Mutter und Vater ins Auto. Mutter hatte die Axt dabei. Als die Eltern zurückkamen, hatte Vater einen blutigen Verband auf der rechten Hand. Mutter erklärte, es sei beim Holzhacken passiert.

Am nächsten Tag sagte mein Vater, wir müssten Serbien sofort verlassen. Wir machten uns auf den Weg nach Wien. Meine Eltern sprachen kein Wort.

Ich lernte schnell Deutsch und kam ins Gymnasium. In der zweiten Klasse erzählte die Geschichtslehrerin, dass sich im ersten Weltkrieg viele Männer selbst verstümmelt hätten, um nicht kämpfen zu müssen.

Plötzlich wusste ich, warum meinem Vater der rechte Daumen fehlte.
Ich sprach kein Wort.

Eisprung

Der Eisprung ist da. Ich verspüre nicht nur ein heftiges Ziehen neben dem rechten Hüftknochen, sondern auch Lebensfreude, gepaart mit einem selbstbewussten, zufriedenen Körpergefühl. Meine Laune ist auf dem Höhepunkt, es ist genau der richtige Tag für ein sexy Outfit:

Als Unterwäsche wähle ich den Seidenslip und ausnahmsweise einen BH, damit der Busen nicht so mikrig wirkt. Das enge, rote Stretchkleid habe ich schon lange nicht mehr angezogen – eigentlich wollte ich es schon einmal in den HUMANA-Kleidersammlungskontainer werfen. Dazu passen die schwarzen Strümpfe, deren Bund frau an den Oberschenkel klebt. Erstaunlich, dass das hält. Die Haare stecke ich auf, Ohrringe nicht vergessen! Und welche Schuhe? Die hohen schwarzen natürlich.

Leider ist es kühl draußen. Ich muss die Jacke anziehen, aber lasse sie noch offen, für den Fall, dass noch jemand in den Lift einsteigt. Im 4. Stock kommt tatsächlich Dustin Hoffman (der junge) dazu. Er begrüßt mich besonders freundlich – noch nie  hat er mich so lange angelächelt. Im EG angekommen, hält er mir die Tür auf und ich stolziere mit kessem Hüftschwung an ihm vorbei.

Der fesche Doktor-Richards-Busfahrer bringt den Bus so zum Stehen, dass die vordere Tür genau vor mir aufgeht. Er strahlt mich an, wünscht mir einen „wunderschönen guten Morgen“ und fordert mich mit einer einladenden Handbewegung zum Einsteigen auf. Ich gehe nach hinten zu einem Platz, der noch frei ist, und spüre den Blick, der mir folgt.

Beim Sitzen habe ich allerdings ein Problem: Das kurze Kleid gibt die Strumpfenden frei. Ich kann Strümpfe eigentlich nicht leiden. Das unangenehme Material liegt zu eng an und frau muss dauernd aufpassen, nirgends hängen zu bleiben. Dustin hat mich so eigenartig angeschaut. Hat ein Strumpf schon eine Laufmasche? Nein. Er hat sicher gedacht: na, die ist heute aber aufgedonnert. Er hat mich gar nicht angelächelt, sonder hat sich vielmehr das Lachen kaum verbeißen können. Auch der Busfahrer hat sich über mich lustig gemacht, wollte mich ein bisschen auf den Arm nehmen, zum Zeitvertreib im öden Busfahreralltag.

Schnell erledige ich alles, was ich erledigen muss, lasse die dämlichen Hüftschwünge bleiben, haste statt dessen mit den für mich typischen raschen, plumpen Bergsteigerschritten vorwärts (du gehst wie ein Mann, pflegte mich meine Mutter zu kritisieren), bleibe bei der Rückfahrt im Bus stehen, reiße mir, zu Hause angelangt, die beengenden Sachen vom Leibe – ich werde das Kleid doch in den HUMANA-Kleidersammlungskontainer schmeißen.

Am Abend gehe ich aus. Die ausgebeulten Leggins sind nicht einmal frisch gewaschen. Unter dem weiten Sweatshirt sieht mann gar nichts vom Busen. Die Haare trage ich offen: Das ist herrlich bequem!

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