Nora Aschacher

Zwei Texte

spring anna, spring

vier meter über dem wasser oder viereinhalb, was machen fünfzig zentimeter für einen unterschied, ich stehe am rande der welt, eine bewegung und es ist aus, kaum platz für meine füße, sie sind zu lang, da werden wir es schwer haben, einen passenden schuh für das kind zu finden, hat der verkäufer gesagt, hier oben bin ich barfuß, die von der augustsonne aufgeheizten holzbretter brennen sich in meine sohlen ein, mir gegenüber auf der anderen seite des sees mein freund mit seinem mächtigen elefantenkörper, dessen überlappende haut wie ein stück sperrigen stoffes an seinen flanken zusammengerollt, genietet, angenäht oder einfach umgeschlagen wurde, schön ist er in dem rot glühenden sonnenuntergangslicht, ob ich ihn wiedersehen werde, nachdem ich unten angekommen bin, vielleicht spiegeln sich seine konturen nicht nur im wasser, vielleicht wirft das am boden des sees verankerte gebirge seinen schatten nach oben, ist zweifach vorhanden oberhalb und unterhalb der wasseroberfläche, so wie ich, ich bin hier heroben auf dem brett, aber gleichzeitig sehe ich mich als leblosen körper aus der tiefe hinaufgeschwemmt werden, wie sie dort unten im bootshaus winken, eis schlecken, ihren fotoapparat auf mich richten, ich soll springen, aber ich kann nicht, mein zweiter freund sieht so hart und undurchdringlich aus, so kenne ich ihn nicht, ob ich sein metallenes grün durchstoßen kann, vielleicht lässt er mich abprallen, ist zur eisfläche geworden bis ich unten angekommen bin und ich breche auseinander oder bleibe mit dem kopf in der gefrorenen schale stecken, bei der geburt kommt ja auch zuerst der kopf heraus, wenn allerdings der körper des kindes im mutterleib eine schlechte lage hat, bleibt er drinnen, da kommt dann gar nichts heraus, dann ist alles kaputt, vielleicht werde ich da unten noch einmal geboren oder komme gar tot zur welt, aber in welche welt denn, wie sieht so eine welt aus, in der geburt nahtlos in tod übergeht und umgekehrt, dabei liebe ich ihn so sehr meinen zweiten freund besonders am frühen morgen bevor die anderen ihre liegetücher, strohhüte, plastiktaschen, sonnenschirme und liegestühle deponiert haben, um sich nur ja die besten plätze zu sichern, den ganzen tag über beachten sie ihn kaum und wenn sie ihn berühren, dann nur um der hitze zu entkommen, bis neun uhr früh sind wir beide alleine, er mit seinen glitzernden aluminiumexplosionen im wind, schäumend vor übermut und ich seine bewunderin, unser zweites rendez-vous beginnt am späten nachmittag wenn sie ihre sonnencremen, radios, romane, strandsandalen, bikinis, badehosen und badehauben eingepackt haben und zurück in ihre hotels und pensionen ziehen, um sich für das abendessen vorzubereiten, sie wissen nicht, was sie verpassen, um diese zeit wird er samtig, ruhig und klar, als hätte er sich selbst ein bad gegönnt und danach einen blauen seidenen mantel übergezogen, vormittags schleudert er mich oft aus sich heraus, schwappt über mich, spielt mit mir, schluckt mich, will mich aufsaugen, abends ist er zärtlich, brüderlich, glättet großmütig die einschnitte, die ihm meine arme und beine verursachen als bügle er leichte knitterfalten aus, warum also fürchte ich mich so sehr, ihm entgegen zu springen, weil ich so alleine bin, weder vor noch zurück kann zurück wäre eine niederlage, ich sehe jetzt schon seinen verächtlichen blick „aus diesem kind wird nichts, die taugt nichts, weder in der schule noch beim sport, kein wunder bei der mutter“, und dann werden sich die beiden stimmen mit ihren gegenseitigen vorwürfen immer höher und höher schrauben „deine tochter… zu feig um von einem lächerlichen sprungbrett zu springen… weil ihr sie immer so verweichlicht… du kannst einem kind doch nicht… hör mir doch auf damit… die wird es im leben zu nichts bringen, schau dir die anderen in ihrem alter an… du hast doch immer… was glaubst du eigentlich wer du bist… dann geh doch… ihr könnt sehen, wo ihr bleibt…“
nach vorne könnte mich das leben kosten, also stehe ich still, jede einzelne zelle in mir hält ihren atem an, weil alle wissen, wenn sie luft holen, bringen sie mich aus dem gleichgewicht, nicht einmal blinzeln ist erlaubt, ich glaube nicht ,dass tote menschen immer liegen, man kann auch tot sein und stehen, ganz kurz schwanke ich, aber noch kann ich mich in diesem zwischenreich festklammern, wie viele minuten, stunden, jahrhunderte, jahrtausende stehe ich eigentlich schon auf diesem sprungbrett, unten ist es ruhiger geworden, komme ich mit dem rücken auf dem wasser auf, könnte ich gelähmt bleiben, pralle ich mit dem bauch auf, quellen vielleicht meine eingeweide heraus, es gibt nur zwei wege, mit dem kopf zuerst oder ich lasse mich wie ein schwerer stab fallen und hoffe, dass während dieses falls durch siebenundzwanzigtausend universen kein wind aufkommt, der meinen körper in eine andere position dreht, aber was ist, wenn sich dieser mein körper von selbst in eine andere position bewegt, weil er nicht mehr will, weil er mit mir mitleid hat, weil es uns beiden einfach zu viel ist, weil wir zwar das wasser, den see, die wellen, das schwimmen, tauchen und springen lieben, weil wir aber nicht wie ein dressierter hund gehalten werden wollen, fünf schillinge, wenn du einen kopfsprung vom steg aus machst, zehn schillinge, wenn du zum kleinen sprungbrett gehst und fünfundzwanzig schillinge, quasi die olympiade, wenn du auf das viereinhalb meter hohe sprungbrett steigst oder traust du dich nicht, fünfundzwanzig schillinge, damit lässt sich viel machen, zehn tafeln bensdorp milch oder haselnuß besser fünf milch und fünf haselnuß, drei bücher pro woche mehr entlehnen und damit ausflüge in andere leben erfahren, die rote spange kaufen, das alles und mehr gibt es für fünfundzwanzig schillinge,
ich springe
dunkelgrünschwarz
mein freund spuckt mich aus
ich bekomme fünfundzwanzig schillinge
wie müsste es gewesen sein, wenn ich an diesem heißen, wolkenlosen sommertag im august auf das brett hinaufgeklettert und gesprungen wäre, freiwillig und aus lust am leben.

 

Die Erbschaft

Sieben Jahre. Ich habe sieben Jahre und drei Monate gebraucht, um meinen Oberkörper von der Mitte aus nach unten rollen zu lassen ohne dass der Kopf in den Schultern verschwindet, während die Fingerspitzen den Boden berühren. Dieses Unvermögen lag weder an den Folgen eines Unfalls noch an einer angeborenen Behinderung. Ich war einfach so. Die Gelenke klebten aneinander, der obere Teil war wie mit inneren Stricken an den unteren geschweißt, keiner der beiden konnte sich unabhängig vom anderen bewegen. Ein Sack eben. Aber es fiel mir nicht auf, ich kannte fünfzig Jahre lang nur diesen einen Körper.
Während dieser sieben Jahre hat Lance Armstrong fünfzehntausend Kilometer am Rad zurückgelegt, seinen Krebs besiegt und fünf Mal die Tour de France gewonnen, die Menschheit konnte mehrere Sonnenfinsternisse beobachten, sechzehn Hurrikans zerstörten Teile der USA und der karibischen Inseln, ein Tsunami verschluckte thailändische Dörfer, Hotels und Eisenbahnen, zwanzig Erdbeben machten tausende Menschen obdachlos, in Ruanda ging eines der brutalsten Gemetzel, Bürgerkrieg genannt, zu Ende, Massengräber mit ermordeten Bosniern und Serben wurden in Ex Jugoslawien entdeckt und im Irak expandieren nach dem Sturz des Diktators Chaos und Anarchie.
In diesen sieben Jahren wurde eine Katze geklont, eine 65 jährige gebar die Kinder ihrer Tochter und eine NASA Sonde fand Wasservorräte auf dem kleinen Mond des Saturn, dem Enceladus. Sascha ist vom Kindergarten in die Volksschule und danach ins Gymnasium übergetreten, Lisa steht knapp vor der Matura während meine Schwester Gerti in diesem Zeitraum… wie viele Sachertorten… produziert hat… Ostern… Weihnachten… dazu die Geburtstage von Sascha, Lisa, Georg und Tante Anni… ergibt 42 Sachertorten. Rechnet man Gertis eigene Geburtstage und meine dazu, kommen wir auf 56. In sieben Jahren also 56 mit Marillenmarmelade gefüllte und mit Manner Schokoguss überzogene Sachertorten, deren Spuren man bestenfalls an Gertis Hüften ablesen kann. Nichts sonst ist für die Nachwelt erhalten geblieben außer immer wieder gewaschene und getrocknete Tortenformen und Mehlspeisteller. Ich habe wenigstens meine Bewegung, die ich herzeigen kann, dieses von der Mitte aus nach unten beugen und aufrollen ist nun eingraviert in meine Zellen, Knochen und Muskeln.
Es war in einer der Trainingsstunden im Pilates Studio.
„Nicht den Kopf einziehen, der Rücken wird länger“
Jay hatte diesen Satz schon hunderttausende Male gesagt. Ich konnte die unterdrückte Ungeduld in seiner Stimme hören, sah mich plötzlich von außen mit seinen Augen während sich gleichzeitig ein anderes Bild darüber schob: Meine Mutter von hinten. Sie beugt sich hinunter zu ihren Schuhen. Bis zu den Ohren hochgezogene Schultern, einknickende Knie, Rücken und hinteres Becken ein Block, ein unbeweglicher Block mit nahezu keiner Taille. Eine Bewegung, die Angst, Unsicherheit und Hilflosigkeit ausdrückt wie ich später herausfand. Der Körper sagt, lass sie doch machen, was sie wollen, ich finde nicht das, was ich suche, niemand der mir hilft. Es war eine Bewegung des Sich Fügens. Rücken und Hinterteil signalisierten Sorgen, Angst, Depression, mangelndes Selbstwertgefühl, Scham, unterdrückter Ärger aber vor allem Kapitulation.
Ich, die Beobachterin, war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt als ich mehrmals Zeugin dieses mütterlichen Hinunterbeugens wurde und dieses Bild speicherte. Natürlich wusste ich damals nicht, was ich heute erkannt habe: diese Bewegung mit allen dazugehörigen Gefühlen ist ein Erbschaftsanteil, der an meinen Körper weitergeben wurde, so wie andere einen Diamantring oder ein Haus vererbt bekommen.
Jay hatte mich bereits aufgegeben. Sieben Jahre im Studio und trotz intensivster Bemühungen seinerseits verharrte mein Körper bei dieser Bewegung in der Rolle eines Müllsacks. Seine Anweisung „Nabel zur Wirbelsäule ziehen, Schulterblätter nach hinten“ klang so emphatisch wie „Einsteigen. Türenschließen“ eines U-Bahnlenkers nach achtstündiger Arbeitszeit. Ich hörte und verstand ihn, aber ich konnte die Bewegung nicht umsetzen. Meine Lendenwirbelsäule war ein prähistorischer Monolith, unbeweglich, unveränderbar. Das schmerzte. Nicht in der Lendenwirbelsäule, sondern irgendwo anders in mir. Ich erkannte, dass ich gedankenlos eine Erbschaft übernommen hatte, die ich hätte verweigern sollen: ich, die Fünfzigjährige, beugte mich mit dem Körper meiner Mutter zu Boden. Gerti hat ein anderes Erbe mitbekommen, den Jähzorn, das arrogante Anheben der Augenbrauen unseres Vaters, wenn etwas nicht nach ihrem Willen läuft, den patriarchalischen, dominanten Umgangston und dazu diese durch die Luft zischende Armbewegung als würde ein Herrscher unliebsames Volk wegscheuchen. Dabei wurde unser Vater selbst oft genug weggescheucht.
Ich habe inzwischen gelernt, dass eine Abrechnung mit dem, was Eltern einem angetan haben, nur zu Selbstmitleid und damit zu Lethargie führt, aber keinen Ausweg bietet. Denn wen sollten Gerti und ich verantwortlich machen noch dazu für derartige winzige Körperbewegungen: eine Gesellschaft, in der vor über hundert Jahren die Eltern Tränen vor Glück aus den Augen wischten, weil der kleine August, unser Vater, dem Kaiser die Hand geben durfte; in der es jeder als gottgegeben hinnahm, wenn sich Bruder, Sohn, Vater, Ehemann 1914 freiwillig für den Dienst am Vaterland meldeten, um Jahre später mit amputierten Armen, Beinen und halb zerschossenenKörpern zurückzukommen wie der Vater unserer Mutter, der lebenslang unter Schmerzen litt, die durch das Tragen eines Metallkorsetts ein wenig gemildert wurden. Nach dem Horror des Ersten Weltkrieges dann Not, Hunger, Kämpfe und Ungerechtigkeiten der so genannten Zwischenkriegszeit, wie es im Nachhinein heißt. Gefolgt von dieser unvorstellbaren Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches mit Mauthausen, Auschwitz, Dachau, dazu noch Leningrad und alle anderen Massenvernichtungsstätten. Im Wissen um den Holocaust wage ich ja nicht einmal ansatzweise an den eigenen Schmerz zu denken, weil der Oberkörper sich nicht nach unten biegen lässt noch dazu in einer Zeit, in der es im eigenen Land Freiheit und Demokratie gibt.
Gerti und ich haben es in diesem Punkt gut getroffen. Unsere Eltern wurden weder vergast, noch gefoltert oder ins Exil getrieben. Sie machten sich auch nicht mitschuldig, indem sie den Bund nationalsozialistischer Mädchen und Frauen frequentierten, zur Wehrmacht, SA oder SS gehörten, irgendjemanden denunzierten. Unseren Vater hatten die Nazis wegen seiner monarchistischen, deutschfeindlichen Einstellung aus dem Staatsdienst entlassen, er konnte durch besonderen Arbeitseinsatz in der Ölbranche dem Eingezogenwerden eine Zeitlang entgehen und überlebte die Jahre bis zur Befreiung mehr oder weniger illegal auf mehreren Bauernhöfen. Wir brauchen uns also unserer Eltern nicht wirklich zu schämen. Wir mussten nicht zwanzig Jahre später die Frage stellen: „Und was habt ihr getan?“. Wir wussten, dass mein Vater und seine Mutter von der Nachbarin im Mietshaus denunziert worden waren, weil sie feindliche Sender hörten. Wir kannten die Gesichter jener, die im Dorf unserer Mutter selbst nach 1945 immer noch feurige Hitler AnhängerInnen waren oder bei der Einweihung von Heldengräbern als ordensgeschmückte Mitglieder des Kameradschaftsbundes Reden hielten.
Uns wurden unaufhörlich, zumeist beim sonntäglichen Mittagessen, Geschichten erzählt: Vom Onkel, der nach Jahren des Hungers und der Arbeitslosigkeit endlich eine Stelle als Chauffeur fand und daher ohne Bedenken den Arm zum Hitlergruß hob. Im Schützengraben landete er trotzdem. Dass Arbeitsplatzbeschaffung und Krieg zusammenhingen, war ihm nicht einmal zwanzig Jahre nach Kriegsende klar; von der besten Freundin unserer Mutter, die dem Gauleiter die Mitteilung zukommen ließ, dass im Haus unserer mütterlichen Familie eine jüdische Frau wohnte, Geliebte eines verheirateten Mannes, der sie einmal pro Woche besuchen kam; von einer guten Bekannten, aufgewachsen in ärmsten bäuerlichen Verhältnissen, die einen zwanzig Jahre älteren Mann heiratete, der sich auf Büromaschinen spezialisiert hatte. Während des Krieges ließen sich gute Geschäfte damit machen vor allem dann, wenn Reichsstatthalter Bürckel und Gauleiter Baldur von Schirach im Privathaus ein- und ausgingen. Diese guten Geschäfte verbesserten sich nach 1946 auf das Erfreulichste. Heute wird das Unternehmen als traditionsreich beschrieben. Gelegentlich bekamen wir, Gerti und ich waren schon erwachsen, eine Einladung zur Jause. Wenn der, selbstverständlich ausgezeichnete Wein, die Zungen flotter gemacht hatte, kam es in diesem privatem Kreis schon mal zu Äußerungen wie „den Juden erkennt man an der Nase“ oder „das jüdische Pack“. An das Missfallen eines weitschichtigen Verwandten, ein angesehener Jurist im Staatsdienst, über die Besetzung von Grace Bumbry als erster schwarzer Venus in der Tannhäuser Oper in Bayreuth kann ich mich bis heute gut erinnern. Wir schrieben 1961.
Beim sonntäglichen Mittagessen erzählte man uns wie unsere Großmutter mütterlicherseits vor 1946 im Dorf bespuckt und angefeindet wurde, weil sie jeden Sonntag zur Messe ging. Nach Kriegsende plauderten Denunzierende und Denunzierte miteinander beim Greißler. Man schilderte uns, wie unser Vater durch einen Trick einen Mann vor der Gestapo rettete und dass es ihm gelang, bei den Bauern für einen Pelzmantel 3 kg Schmalz zu bekommen. Wir wussten, dass unser Großvater väterlicherseits einen Tag nach dem Ende des NS Regimes im Haustor stehend von einer Kugel tödlich getroffen wurde. Ob der Schütze ein NS Anhänger war, der noch nichts von der Befreiung gehört hatte, ob es eine amerikanische oder russische Kugel war, das wissen wir nicht, Kugeln haben ja keine Nationalität, anders als Schwänze. Jener, der schon fast im Unterleib unserer Mutter drinnen gewesen wäre, hatte einem Russen gehört. Eine amerikanische, französische oder britische Vergewaltigung wäre um nichts besser gewesen, vergewaltigt wird ja in jedem Krieg, das ist ungeschriebenes, international gültiges Gesetz.
Mehr als dreißig Jahre später lag unsere Mutter mit dreizehn anderen Patientinnen im Zimmer im Spital: Brustkrebs. Krebs war zu dieser Zeit eine exotische, tabuisierte Krankheit, über die nicht gesprochen werden durfte. Die linke Brust war amputiert worden, die Lymphknoten unter der Achsel mussten entfernt werden. Die anschließende Chemotherapie hatte ein Zombie aus ihr gemacht. Sie saß zu hause am Tisch, antwortete nicht, schaute nur vor sich hin. Tagelang. Wir waren hilflos, brachten sie ins Spital. Da die Befunde nichts Bemerkenswertes ergaben, setzte man einen Psychiater ein, der sie fragte, ob es in ihrer Vergangenheit etwas Belastendes gebe, worüber sie vielleicht reden wolle. Ein Ansinnen, das sie mit großer Empörung zurückgewiesen habe, wie sie mir später erzählte. Sie sei doch nicht verrückt. Damals verstand ich sie nicht. Wie konnte sie diese Chance verstreichen lassen, ihrer Seele, ihrem Leiden näher zu kommen. Heute weiß ich von mir selbst: Der Schmerz geht so tief und verwächst so sehr mit einem, dass man weder fühlt, wo er anfängt noch wo er aufhört. Hätte sie über das Belastende in ihrer Vergangenheit zu sprechen begonnen, sie würde nicht wieder aufgehört haben: der Vater, ein kleiner, aber geschäftstüchtiger Handwerker. Wenn die Kriegsverletzungen zu schmerzhaft waren, griff er zum Alkohol und schlug auch manchmal zu. Die Mutter, die lebenslang schuftete, ohne sich irgendetwas zu gönnen. Der ständige Kampf gegen Hunger und Armut. Mehr als die Volksschule war nicht möglich. Wer hätte eine Ausbildung zahlen können zu einer Zeit, in der Hunderttausende ohne Arbeit waren und die Frauen am Samstag vor den Fabrikstoren standen, damit das Geld nicht im Wirtshaus verschwand. Die Bomben, der Krieg, die Angst. Danach endlich etwas Schönes: Kriegsende, Hochzeit. Das erste Kind stirbt, ein Jahr später ich, sieben Jahre später Gerti. Zum ersten Mal jeden Monatsanfang sicheres Geld, denn der Ehemann wird wieder als Beamter eingestellt. Er ist launisch, jähzornig, tyrannisch, aber auch das was herkömmlich als guter Ehemann und Vater bezeichnet wird. Nur für die Familie da. Nach einem Streit und davon gibt es zahlreiche, knallen die Türen und der Mann verlässt, das Kochbuch seiner Mutter unterm Arm, die Wohnung. Stunden später wird er zurückkommen und die Eltern werden sich wieder vertragen. An einem Samstagnachmittag läutet es an der Türe. Draußen steht ein junger Mann und sagt: ich möchte meinen Vater sprechen. Aufregung, zischende leise Stimmen. Die Krankheiten der Mutter verstärken sich: Herzrhythmusstörungen, Herzinfarkte, Lungen- und Kreislaufprobleme, Arthritis, Polyarthritis, grüner Star, künstliches Kniegelenk und immer wieder Herz, Herz, Herz. Gestorben ist sie weder an Krebs noch an einem Herzanfall. Vielleicht hat sie die mindestens zehn Jahre dauernden chronischen Schmerzen nicht mehr ausgehalten.
In einem meiner Lieblingsbücher „When the body says no“ heißt es:
„Eltern erkennen den Schmerz ihrer Kinder nicht, weil sie ihren eigenen Schmerz nicht erkennen“. Ich habe kein Kind. Ich hätte es nicht ertragen können, ihm meinen Schmerz als Erbe weiterzugeben.

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