Peter Bosch

Zeitgenössische österreichische Literatur

50 Geschichten vom Vertraut werden

Die Vögel zogen nach Norden. Sie hatten die Richtung verloren – oder vergessen. In diesem Jahr war alles anders. Ich war im Zeichen der Jungfrau geboren, am ersten Tag, sie im Zeichen der Waage, auch am ersten Tag. Im Jahr trennte uns genau ein Monat, im Leben vierzehn Jahre und sonst alles nur Erdenkliche. Wir lebten an den Grenzen, von Löwe zu Jungfrau, von Jungfrau zu Waage. Das zog uns an und trennte uns.
Es gibt tausend Geschichten davon, wie wir uns kennen lernten. Und jede davon ist wahr. Ich schwöre. Diese hier ist die erste und älteste:

Es war am Anbeginn aller Tage. Wir waren einfach da. Nur wir beide. Sonst niemand. Sonst nichts. Es gab gerade den Himmel, der hatte bereits seine Farbe, und es gab die Sonne. Aber die Erde unter uns war noch nicht. Sie war dunkel, nicht zu sehen, nicht zu begreifen.
Wir waren Mann und Frau. Keiner aus dem anderen gemacht, keiner eher da, beide gleich und gleich vollkommen. Wir wussten umeinander und es war gut so. Wir sprachen nicht, wir lachten nicht, wir berührten uns nicht. Da war nur ein großes Staunen, dass es uns gab, dass wir waren und lebten. Wir sahen in die Sonne und sie blendete uns.
Damals war Sommer und jemand nahm uns an der Hand. Wir waren zu dritt und hatten keine Namen. Ein kleines Mädchen, das uns vorwärts zog und die ersten Schritte machen ließ. Und jeder Schritt ließ die Welt rings um uns entstehen. Gras wuchs unter unseren Füßen. Bäume und Sträucher zu beiden Seiten, das Krabbeln der ersten Käfer, wir zogen einen Keil von Leben und Blühen hinter uns her.
Das kleine Mädchen lachte und wir lächelten uns an. War sie vor uns gekommen oder nach uns oder mit uns? Das fragten wir uns nicht, denn alles fühlte sich gut an und richtig, Fragen waren für spätere Zeiten bestimmt.
Am Abend blieben wir an einem See stehen, der gerade entstanden war, Libellen schwirrten im Schilf, ein Fisch probierte die ersten Flossenschläge und Frösche paarten sich am Ufer. Da nahm das kleine Mädchen unsere Hände, die es immer noch hielt und legte sie ineinander. Mann und Frau. Eltern. So einfach hat alles begonnen. So klar und fraglos. Der erste Tag der ersten Nacht, in der wir uns zum ersten Mal liebten.

Wir stehen auf der Brücke über den Donaukanal und füttern die Möwen. Die U-Bahnzüge lassen wir vorbei fahren, wir haben Zeit und wollen noch nicht nach Hause. Wenn ich über das Brückengeländer schaue, zieht das Wasser unter uns vorbei. Ich aber glaube – ähnlich wie bei anfahrenden Zügen, die man aus stehenden Waggons heraus beobachtet –, dass das Wasser ruhig ist und wir mit der Brücke flussabwärts fahren. Die Möwen kreischen und aus irgendeinem Grund bin ich glücklich. Ich öffne den Mund und möchte auch gefüttert werden.

Es war noch immer in den alten ersten Zeiten. Sie hielt einen Apfel in der Hand. Ich hatte noch nie einen gegessen, auch nicht gerochen oder geschmeckt. Es waren die Zeiten der ersten Male. Damals als es noch keine Wundmale gab. Nur Erkenntnisse.
Wir saßen unter dem Baum, einer Linde, lehnten an seinem Stamm. Das kleine Mädchen spielte zu unseren Füßen. Dann drehte es sich um, sah den Apfel, kam her, nahm ihn in beide Hände und biss hinein. Kleine spitze Schreie vor Vergnügen und Wohlsein. Der erste Apfel schmeckte noch wie die ganze Welt, roch nach Erde und Sonne, nach Süße und Regen, nach Haut und Lippen.
Das kleine Mädchen hatte ihn fast bis zur Hälfte gegessen, die Zähne hatten sich schon bis zu den Kernen vorgearbeitet, da sah es unsere Begierde und unser Wollen. Es überlegte kurz, dann hielt es uns den Apfel hin und wir bissen hinein, gleichzeitig, alle drei. Danach war nur mehr das Kerngehäuse übrig und der Stängel. Das gruben wir ein und warteten dass der erste Baum wachsen würde, dass er zu blühen begänne und die ersten Früchte tragen würde. Wir hatten Zeit, trugen seinen Geschmack in uns, warteten geduldig, vergaßen ihn nicht.
Und wir alleine wussten, was zuerst da war: der Apfel oder der Baum.

Ich sehe sie singen – ich höre sie auch, sicher, aber vor allem sehe ich sie. Sie singt vielleicht nicht am lautesten, aber am bewegtesten. Mitten im Chor ragt sie heraus. Den Kopf in den Himmel, die Nase frech Gott herausfordernd. Als einzige schaut sie nicht geradeaus sondern ins Gewölbe der Kuppel. Wenn es einen Gott gibt, so soll er sie sehen. Und sich daran erfreuen, dass das Werk gelungen ist. Draußen beginnt es zu regnen und ich habe nicht vor, zu rasch heimzugehen. Es wird eine Agape geben, in Kreuzgewölben, alte, polierte Kästen vor weißgetünchten Wänden, es wird nach Christentum riechen und vergebenen Sünden, ich werde mir ein Glas Rotwein einschenken, ein Stück Brot essen, werde mit den Menschen rund um mich nicht reden und auf dich warten. Auf deine Stimme, die ich wie Nachgehörtes noch in meinen Ohren trage.

Wir standen vor Jericho. Sie hinter mir, hatte mir ihre Hände über Hals und Schultern und ihren Atem in meinen Nacken gelegt. Sie flüsterte:  „Warte!“ Irgendein Gott – den anderen sei Dank: nicht der unsere – wollte die Stadt in Schutt und Asche sehen. Die erste in einer Reihe von vielen, die noch folgen sollten. Hinter uns standen die Soldaten, die Krieger und die sieben Bläser mit ihren Schofaren. Sie hoben die Instrumente, setzten sie an die Lippen und dein Finger strich mir über die Falte zwischen Ohrmuschel und Schläfe. Mir war nach allem andern denn nach Krieg. Ich drehte mich zu dir um:  „Komm, sing für mich und für die da.“ Ich deutete auf die Stadt, auf die Mauern, auf die Stimmen, die man dahinter hörte, leise, dumpf und voller Tod. Sie drängte eines ihrer Beine zwischen meine Schenkel, legte eine ihrer Hände auf meinen Bauch, ihre Brüste drückte sie gegen meinen Rücken und dann begann sie zu singen. Es war ein Lied voller Leben, voller Liebe und Lust. Die Mauern blieben stehen und die Sieben ließen ihre Instrumente sinken und lauschten. Dann öffneten die Bürger die Tore, kamen aus der Stadt und drängten sich in Kreisen rund um uns her. Singend und lachend gingen wir fort, zogen weiter, gefolgt von den Frauen, Männern und Kindern. Ließen die Belagerer verwirrt und alleine zurück. Die standen vor einer leeren Stadt. Ratlos. Tonlos.

Von unserer Trennung ist nichts überliefert. Vielleicht gab es sie nicht, vielleicht dauert sie noch an, vielleicht wurde sie vergessen, die Aufzeichnungen darüber verbrannt, weil keiner sie hören wollte. Oder vielleicht lebt sie in anderen Geschichten weiter, die nicht mehr die unseren sind.

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