Herbert Kronig

Geschichten zur Durchsicht

VERKOMMEN

Ein alter Mann saß vor seiner Höhle, die mit Goldstücken vollgefüllt war und sich in einem abgelegenen Gebiet befand. Hie und da kam ein Fremder vorbei, der ihn fragte, was er in seiner Höhle habe. Das Prozedere war in jedem Fall das Gleiche: Der alte Mann ging mit dem Blechkübel, der mit Wasser zum Durstlöschen gefüllt war und den er immer neben sich stehn hatte, wenn er nach draußen vor die Höhle in die Sonne trat, hinein ins Innere. Drinnen leerte er das restliche Wasser aus dem Kübel und füllte es nicht mit dem Gold, sondern mit Sand vom Boden. Damit kam er heraus und zeigt es dem Fremden: „Sieh, das ist es, was ich in meiner Höhle habe.“ Den Fremden hielt dann nichts mehr und er ging weiter seines Weges. Der alte Mann hatte hauptsächlich folgende Gründe, warum er sich so verhielt und das Kostbarste, das er besaß, den Anderen vorenthielt:

Er hatte Angst,

  • dass der Fremde ihn erschlüge und ihm den Schatz raubte, sobald er nur ein winziges Körnchen zeigte.
  • dass ihn der Fremde zwar in Ruhe ließe und ging, er es aber überall weitererzähle, wodurch dann viele Fremde kämen und ihn erschlügen.
  • dass der Fremde ihn zwar am Leben ließe, ihm aber den Schatz wegnehme, dann ginge und er mitansehen mußte wie sein Gold durch fremde Hände gereicht wurde.
  • dass der Fremde ein Armer wäre, für den er sich dann verpflichtet fühlen müsse, ihm einen Teil seines Schatzes abzugeben. Er könnte möglicherweise wiederkehren bis nichts mehr vom ursprünglichen Reichtum übrig wäre. Außerdem könnte er es wiederum überall weitererzählen, wodurch er dann bald eine Horde von Bettlern um sich hätte, die das Gold noch schneller verzehrten.
  • dass dem Fremden der Schatz nichts bedeute, er ihn kaltließe und ihn dadurch entwerte. Von solchen Fremden gab es zweierlei: zum einen solche, denen zwar das Gold nichts bedeutete, ihm aber etwas Anderes entgegenhielten, etwa Blechmünzen, zum anderen solche, die dem ihnen nichtssagenden Gold nichts entgegenhielten und so den alten Mann im Unklaren ließen, was für sie wert habe, auf ein imaginäres Etwas hinweisend.
  • dass der Fremde sich zwar als Freund erwies, und mit ihm etwa schöne Kleidungsstücke oder verzierte Töpferwaren tauschte, doch dass sich der Ort unweigerlich herumsprechen und all die vorherigen Möglichkeiten über den Umweg des freundlichen Fremden wieder eintreffen würden.
  • dass er irgendwann nur mehr Kleider und sonstige Waren in seiner Höhle haben könnte, seinen Schatz also vollständig eingetauscht zu haben.
  • dass der freundliche Fremde, wenn er auch alles für sich behielt, vor ihm sterben könnte und so ihre fruchtbringende Tauschbeziehung abrupt ein Ende finden täte. Er wäre dann womöglich von den Kleidern schon so abhängig geworden, dass er keinen ruhigen Schlaf mehr fände. Er könnte in den Wahnsinn getrieben werden und sich vor lauter Entzugserscheinungen töten.
  • dass der Fremde nach anfänglichem Interesse nach einigen Wochen oder Monaten einfach nicht mehr wiederkäme. Oder wenn er wiederkäme, ihm sagen würde, er habe keinen Gefallen mehr an dem Gold. Besonders ängstigte ihn, wenn er dann auch noch sagen würde, er habe von Anfang an falsch daran getan, sich an die Goldmünzen zu halten und er hätte sich besser nach einer Blech- oder Kupferhöhle umgesehen.

Das war in der Tat für den alten Mann das Schlimmste: wenn plötzlich alle, mit denen er in einer Beziehung über den Schatz stünde, übereinkämen, dass Gold nichts wert sei.

RETTUNG

Phobos bewohnt eine abgedunkelte Kellerwohnung, in der man sich nur mit Hilfe von elektrischem Licht oder – sofern man Raucher ist – Feuerzeug orientieren kann. Die Fenster sind hinter zehn Vorhängen verborgen, mit hundert Nägeln vernietet und tausend Mauern umstellt. Die Nahrungsmittelversorgung erfolgt durch eigens abgerichtete Maulwürfe, die so die jahrtausendlange Tradition der helfenden Hunde ablösen.

Hie und da gelingt es einem von ihnen – man mag ihn je nach dem wie man es sieht entweder einen Tolpatschigen oder Gesegneten heißen – das zu vollbringen, was die Schildbürger vergeblich unentwegt versuchten – nämlich Licht in Kübeln in einen fensterlosen Turm zu schütten – hie und da also bleibt an einem augenlosen Maulwurf ein Lichtfetzen von draußen an seinem Fell hängen und erstrahlt für einen kurzen Augenblick Phobos Wohnung derartig, dass dieser sein für den Fall der Fälle gelagertes Dynamit hervorholt, um Vorhänge, Nieten und Ziegelsteine fortzujagen und unter den blauen Himmel einzutreten.

DER SPRUCH

Es war eine Krise in Jaroslavs und Marjas Liebesbeziehung eingetreten. Je länger sie dauerte, umso mehr wurde es Jaroslav bewußt, dass er der Verursacher war und andererseits, wie die einzige Lösung nur aussehen konnte. Er selbst trug das Knoten zerschlagende Schwert bei sich, hatte es immer schon an sich gehabt, übersah es aber aufgrund seiner andauernden Präsenz. Es war so einfach, wie es einfacher nicht hätte sein können, wie es nur Kinder begreifen und wie es in Märchen zuhauf erzählt wird; etwa im Schneewittchen, das tot im Glassarg liegt und vom Prinzen durch einen Kuß zum Leben erweckt wird: Der Prinz erweckt seine Angebetete durch seinen bloßen Kuß, der Schneewittchen bedeutet, es sei Zeit des Aufwachens, Wiederlebens und Fortgangs; der Prinz habe sie abgeholt, sie als die eine auserwählt, mit der er seinen Sattel teilen möchte. Ähnlich wie der Engel Maria erschien, ihr sagte „Fürchte Dich nicht“ und die heilsvolle Geburt Jesu verkündete, ihr also zu verstehen gab: „Es ist Zeit, Du bist auserwählt, fürchte Dich nicht ob Deines Loses, alles ist geregelt, für Alles gesorgt, hab Vertrauen und nimm an“. Maria und Schneewittchen werden erwählt und nehmen an, sie lassen geschehen und verändern sich, sind nicht mehr dieselben, die vorher waren. Vor allem aber vertrauen sie ihrem jeweiligen Erwecker, geben sich ihm hin, glauben an Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit seiner Absichten und halten sie nicht für Spieler, denen es bloße Genugtuung bereitet Menschen in ihren Händen zu benützen, zu beobachten, zu analysieren, zu testen – im allgemeinen also unreife Menschen, die noch nicht wissen, woran sie sich im Leben halten mögen und denen leidergottes auch manche Marias und Schneewittchens auf den Leim gehen –.

Die Macht des Prinzen oder des Engels sind aber keine Mächte, die nur in Märchen oder Bibelerzählungen ihre Wirkung haben, es ist dies sogar völlig ausgeschlossen, denn wie hätte der Mensch solche Geschichten erfunden, wenn er nicht die Wirklichkeit der dargestellten Kräfte an sich selbst erfahren hätte. Alle Erzählungen handeln nur vom Menschen, so irreal sie auch erscheinen mögen, so fern von hiesigen Gegenden in jenseitige Feenwälder versetzt.

So hat auch unser Jaroslav die Macht des Prinzen und des Engels in sich. Er muß sie nur aktivieren, den Zauberspruch laut sagen und es wird sich erfüllen. Er muß nur seiner geliebten Marja, die im Zweifel ob seiner Liebe zu ihr ist, sich also bildhaft gesprochen im toten Zustand Schneewittchens befindet, er muß nur die sieben Worte in ihrer Gegenwart, in ihr Angesicht aussprechen: „Ich will, dass Du mich ganz liebst!“ Er deutet ihr damit an, selbst bereits einen Türflügel vom für sie beide bestimmten hellen vielbelusterten Raum geöffnet zu haben und nun nur mehr auf sie zu warten bis sie den Anderen öffne und sie beide einschreiten können. All ihre Zweifel ob Jaroslavs Liebesfähigkeit werden ob eines solch gewaltigen magierähnlichen Spruches wie von einem heftigen Sturm weggeweht sein!

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