Rupprecht Mayer

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An der offenen Tür

U. galt als scheu und wurde selten eingeladen. Erhielt er doch einmal eine Einladung, dann ging er hin, wurde aber meist nicht unter den Gästen gesehen. U. liebte es in diesem Land vor offenen Türen zu stehen. Oft ließen die Gastgeber die Wohnungstür der Bequemlichkeit halber einen Spalt offen, wenn die Party schon begonnen hatte. U. hielt dann auf der Fußmatte inne und schloß ein paar Sekunden die Augen. Mit den Fingerspitzen tippte er leicht gegen die Tür und genoß ihre Beweglichkeit, ihr exaktes Funktionieren. Anders als in seiner Heimat quietschten hier die Türangeln nicht. Sie waren genau senkrecht übereinander montiert, es gab auch keine Erdbeben, die ihre Lage veränderten. Mehrmals zog U. dann die Tür wieder zu sich heran und wiederholte das Spiel. Es war bis ins Treppenhaus zu hören, wie laut und fröhlich sich die Gäste unterhielten. U. wußte, dass sie bei seinem Anblick verstummen würden und achtete darauf, dass sich die Tür nicht zu weit öffnete.

In der großen Stadt

Die Schrittfrequenz und der Erfolgswille der Menschen in der großen Stadt hatten gegenüber seinem letzten Besuch noch zugenommen. Trotzdem mußte es Probleme gegeben haben. Schon eine Woche war er hier und hatte nur einen Teil der Geschäfte erledigen können, für die er sonst höchstens zwei Tage brauchte. Sein Zahnarzt war unbekannt verzogen, sein Rechtsanwalt unauffindbar. Die Lifte bedienten nicht mehr alle Stockwerke, und als er die Treppe benutzte, um zu seinem Lieblingsrestaurant zu gelangen, versperrte ihm ein freundlicher Wachmann den Weg. Mit der Zeit stieg ein Verdacht in ihm auf. Er überlegte, ob er nicht auf der Straße etwas tun sollte, was er hier sonst strikt vermied – nach oben schauen. Denn in dieser Stadt, die so stolz auf ihre hohen Häuser war, starrten die vielen Touristen unentwegt in die Höhe, wenn sie nicht gerade den Stadtplan studierten, und mit denen wollte er nicht verwechselt werden. Doch nur so konnte er die einzig mögliche Erklärung verifizieren. Daß nämlich alle Stockwerke oberhalb des zweiten verschwunden waren. Man hatte die Stadt geköpft, aber niemand gab es zu.

Im Wald der Gummibäume

Er war seit drei Jahren wieder auf der Suche nach einem Menschen, zu dem er nett sein konnte. Er würde sich am Beckenrand hinter ihn stellen, ihn fest umarmen und sich während des Falls so drehen, dass er selbst zuerst mit dem Rücken das Wasser berühren, der umarmten Person also den Schmerz des Aufpralls ersparen würde. Unter Wasser würde er sich kräftig vom Beckenboden abstoßen, um den Kopf der Person, die vielleicht nicht schwimmen konnte, schnell über die Wasseroberfläche zu bringen und ihr so das Leben zu retten. Später würde er ihr lächelnd gegenüberstehen, langsam die Arme ausstrecken, die Hände auf ihre Schultern legen und ganz leise lobende Worte über die Form ihrer Ohren sagen. Vielleicht würde er noch einen Schritt näher an die Person herantreten, ihr seinen linken Unterarm waagrecht auf die Linie legen, die von der einen Schulter über das Schlüsselbein zur anderen führt, und ihr dann sacht eine in die Stirn fallende Haarsträhne nach oben blasen, nicht ohne sich vorher mit Mundwasser den Atem gereinigt zu haben. Schließlich würde er die Person am Handgelenk nehmen und nachts in einen Wald von Gummibäumen führen. Die schweren, glatten Blätter würden ihnen sanft ins Gesicht und auf die Brust schlagen, und keine Gefahr würde – wie sonst bei solchen Wanderungen – von den Spitzen abgestorbener Fichtenäste ausgehen.

Er kannte Afghanistan aus dem Fernsehen genau

Den ganzen Tag wanderten sie schon flußaufwärts durch dieses Tal, das ins Innere Afghanistans führte. Sie gingen auf bequemen Pfaden beiderseits des Flusses, querten ab und zu durch seichte Furten. Später würde die Strömung reißender werden, das Tal enger. Er kannte Afghanistan aus dem Fernsehen genau, es bestand aus lauter solchen Tälern. Sie würden bald auf die gefährlichen Paßstraßen an steilen Hängen angewiesen sein. Wie es in dem Erlaß über ihre Entsendung gefordert war, marschierten sie mit nacktem Oberkörper. Anfangs machte ihnen der eisige Wind zu schaffen. Doch immer wenn sie an einem Gehöft vorbeikamen, holten die Einheimischen, als sei das ein Gebot der Gastfreundschaft, mit ihren verbeulten Aluminiumbechern Wasser aus dem Fluß und gossen es ihnen über Brust und Rücken, wo es trotz der Körperwärme sofort gefror. So legte sich eine immer dickere Eisschicht wie ein Panzer um seinen Oberkörper. Sie schützte ihn nicht nur vor dem Wind, sondern wohl auch vor den Kugeln der Heckenschützen in den Bergen, vor denen man sie gewarnt hatte. Selbst um seinen Hals legte sich nach und nach eine dicke Eiskrause und zwang ihn, den Blick immer nach oben zu richten. Das störte ihn nicht, er bildete ja die Vorhut und mußte die Berghänge im Auge behalten. Allerdings erschwerte der Eispanzer alle Bewegungen außer dem Vorwärtsgehen, er hatte sich schon lange nicht mehr umgewandt. Folgten ihm die anderen noch, oder würde er alleine ankommen im Inneren Afghanistans?

23.1.02

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