Stefan Rois

Overload #31

Ottensheimer Geschichten

Der Autor dieser Texte legt Wert darauf, dass die Leserschaft weiß,
dass der Autor jetzt weiß, dass diese Texte – gelinde gesagt – schlecht sind.
(Stefan Rois 2007)

Chaostheoretiker

Im Abendrot verschwammen die Stadtrandhügel wie magisch mit dem Rosengewölk. Der Sendeturm bohrte sich dort hinten in eine mondlose Nacht. All die Häuser und Straßen hatten ihre Konturen verloren, schliefen gemeinsam als dort und da blinkendes, von abertausenden Lichtern zersetztes Schwarz.

„Es ist immer ein berauschendes Gefühl für mich, wenn ich eine ganze Stadt unter mir sehe.“ stellte Björn fest, bevor er wieder an seiner Zigarette zog. Ein kurzes rotes Glühen. Rauch schwappt über seine Lippen.

Sylvia besah Björn, dessen Blick sich irgendwo über den Dächern verlor, von der Seite. Da ihr nichts einfiel, was sie hätte erwidern können, begann sie mit zärtlichen Bewegungen über seinen Rücken zu streicheln. Sie wollte ihm zeigen, dass sie zuhörte.

„Es ist unglaublich…“ Björn vollzog mit den Fingern seiner freien Hand eine Abfolge kleiner Greifbewegungen, als könnte er die Worte, nach denen er suchte einfach aus der Luft fischen.

„Einfach unglaublich…“ begann er schließlich erneut. „Ich meine… ein einzelner Mensch ist isoliert betrachtet bereits so furchterregend komplex, so unverständlich mit allem versponnen, solch ein gigantisches Wunderwerk; er ist eine eigene völlig unüberschaubare Welt, ein Universum für sich.“

Björn spürte noch immer Sylvias Hand auf seinem Rücken, aber sie lag nun still, schien zu lauschen.

„Und dort unten in dieser Stadt leben dreihunderttausend… dreihunderttausend! dieser Universen, von denen sich nicht einmal eines selbst auch nur ansatzweise versteht. Sie leben tagtäglich miteinander. Sie stoßen immer wieder zusammen, in den unterschiedlichsten Formen. Allein die Gegenwart, nein die Existenz! des einen beeinflusst das andere und unzählige andere permanent. Gemeinsam spinnen die Menschen dieser Stadt ein Netz unvorstellbarer Verstrickung.“

Björn lächelte sanft. „Und das ist nur eine Stadt. Bloß eine etwas größere Stadt in einem ziemlich kleinen Land.“

Er senkte den Kopf, starrte lange auf den Kies zwischen seinen Schuhen, nahm einen tiefen Zug.

„Ein wahres Paradies für Chaostheoretiker…“

Sylvia verspürte in diesen Momenten Zuneigung für Björn in einem Ausmaß, für das sie keine Worte fand. Als sie dann seine Hand in ihre nahm und fest umschloss, war es ein sanfter und andächtiger Ausdruck ihrer Verbundenheit zu Björn, aber auch ein Festhalten, denn die Distanz der Bewunderung hatte sich in ihr Empfinden gemischt und ängstigte sie.

Björns Lippen legten sich wieder um den dunklen Filterbereich seiner Zigarette. Ein roter Punkt erhellt das Beisammensein im Dunklen. Ein Fingerklopfen. Asche fällt.

„Scheiße ist das Leben groß…“ Björn deutet ein ungläubiges Kopfschütteln an und grinst. Sylvias Augen strahlen.

Über den beiden Verliebten rauscht der Wind des Abends im Geäst der Esche.

Sylvia beugt sich vor, führt ihren Mund nahe an Björns Ohr. Ein Verharren. Schließlich ein Flüstern.

„Wie groß das Leben ist!“

Sie legt langsam ihren Kopf auf seine Schulter, schaut hinaus in eine Nacht voller Universen, doch sieht nur eine Zweisamkeit.

In Utero

10:43

Aus dem Gebäude kam eine Frau. Ihre Lippen schienen lautlos nach Worten zu suchen. Während sie ging, hielt si den Kopf gesenkt. Mit langsamen Schritten ließ sie das Krankenhaus hinter sich. Sie überquerte ohne auf den Verkehr zu achten die Straße –auf das Hupen eines bremsenden Autofahrers reagierte sie nicht-, bog um die Ecke und erreichte das Geschäftsviertel.

Menschen mit Einkaufstüten, Einkaufstüten mit Menschen; eine nackte Schaufensterpuppe; bis minus 30 %; Top-Angebot — Schlagen sie zu.

Ein Mann stellte sich der Frau in den Weg. Langer Mantel, altmodische Brille, Schmutz an den Händen und Schürfwunden im Gesicht.

„Hätten sie ein paar Cent für mich?“ fragte der Mann.

Für kurze Zeit standen die zwei Menschen einander wortlos gegenüber. Dann hob die Frau den Kopf und begann zu sprechen.

„Hätten sie eine intakte Gebärmutter für mich?“ fragte sie den Mann. Der sah sie an, als wäre er eben angeschossen worden. Danach versuchte er einen Augenblick lang zu lächeln, doch der gefrorene Blick der Frau ließ seine Mundwinkeln erst erstarren und dann nach unten sacken, was ihm einen Hauch von Schwachsinnigkeit verlieh.

„Oder vielleicht neue Eierstöcke?“

Top-Angebot. Schlagen sie zu.

 

12:09

„Ich weiß… denen unterlaufen auch… Fehler.“ Die Frau holte Luft. Ihre Stimme zitterte. „Ja, oder ein… verdammt schlechter Scherz. Ein ganz mieser Scherz von einem… Arschloch in Weiß.“ Einige Momente schwieg sie.

„Ich liebe dich auch.“ Die Frau nahm das Handy vom Ohr, legte auf und schob das Gerät zurück in die Manteltasche. Sie zog sich etwas Rotz in die Nase hinauf und wischte sich dann mit einem Ärmel die wartenden Tränen aus dem Gesicht.

Sie atmete durch. Mit geschlossenen Augen.

Das Klingeln der Straßenbahn. Das Stimmengewirr der Fußgängerzone. Weiter weg Motoren.

Sie hob ihre Lider, sah neues Licht.

 

16: 40

Ein Junge streichelte der Frau durch das Haar. Er biss sich auf die Unterlippe und legte den Kopf schief. Auf seiner Stirn bildeten sich Falten.

„Mama…“

„Hmm…“ Die Frau nahm ihren Blick nicht vom Fußboden.

„Schau. Du hast in deinem Leben doch noch nie etwas Verrücktes gemacht.“

Der Ausdruck in den Augen der Frau verlor seine Leere.

„Viel zu wenig, ja…“

„Aber wenn du dann eine Glatze hast; dann kannst du das ganz leicht nachholen. Dann lasse ich mir auch alle Haare abscheren…“

„O nein Schatz, deine schönen Locken…“ lächelte die Frau.

„Dann lasse ich mir alle Haare abscheren und wir ziehen gemeinsam durch die Stadt, machen nur noch Blödsinn und scheißen darauf was die Leute über uns denken! Mama, das werden wir machen. Zwei Glatzen auf Chaostour!“

Es hatte zu regnen begonnen. Der Junge und die Frau hörten wie die ersten Tropfen gegen die Fensterscheiben fielen.

„Ja, Schatz.“ Sie küsste den Jungen auf die Stirn und streichelte seinen Rücken. Das Trommeln der Tropfen füllte das Zimmer.

„Das werden wir machen.“

 

20:15

„ICH !!! — HABE !!! — KREBS !!!“

Manche ignorierten die Stimme. Die meisten Fahrgäste sahen jedoch für einen Moment in den hinteren Bereich des Waggons, bevor sie ihre Augen wieder in die vorbeirasende Dunkelheit schickten oder ihre Köpfe hinter ihren Zeitschriften versteckten.

Die Frau stand dort hinten, eine Hand im Haltegriff, ausdruckslose Miene, die Lider gesenkt. Als wäre nichts geschehen. Als hätte sie nie den Mund aufgemacht.

Die U-Bahn hält an. Die Türen werden aufgezogen. Leute raus, Leute rein. Ein, zwei kurze Blicke im Vorbeigehen. Verstohlene Betrachtungen, die wie zufällig wirken sollen. Menschen, die vorübergehen. Menschen, die sitzen bleiben.

„Respekt meine Damen und Herren… wirklich sehr… beherzt…“ flüsterte die Frau und begann zu lachen. Erst ganz leise, dann immer lauter, so schallend als wäre sie verrückt geworden.

Dort und da ein Kopfschütteln. „Na hören sie mal!“ rief irgendjemand.

Auf einmal schnitt sich ein Schluchzen in das Gelächter der Frau und Tränen quollen hervor. Sie brach nieder, krümmte sich auf dem Boden des Abteils zusammen, presste ihr Gesicht an ihre Schulter und weinte los.

Die Lautsprecher spuckten „Zug fährt ab!“. Die Türen schlossen, die U-Bahn setzte sich in Bewegung, verschwand aus der beleuchteten Zone und wurde erneut von der Schwärze des Tunnels verschluckt.

Nächster Halt Zivilcourage.

Kick

Donner. Ein riesiger Hammer der auf dickes, elastisches Blech niederfährt. Hundert treibende Pauken. Raubtiergebrüll.

Blitz. Eine plötzliche, gleißende Erkenntnis eines erbosten Gottes. Ein Riß im Himmelstuch. Für Sekundenbruchteile offenbart sich eine Leiter ins Universum.

Ich stand am Fenster.

Die Mauern meines Zimmers schienen zu flackern wie eine defekte Glühbirne. Alle paar Augenblicke erhellten sich die Winkel. Alle paar Augenblicke bekamen die Konturen der Gegenstände ein Gesicht.

Draußen rollten die Donner über nassen Asphalt und brodelten durch die zerschnittene Dunkelheit. Die Baumkronen taumelten, träge und trotzig, sie suchten Halt; und alles tanzte bei ihnen — bis in die letzten Blätter. Was für eine Nacht.

Ich liebe Unwetter. Wenn alles rauscht und knickt und der Sturm regiert, der Regen die Luft mit seinen Lanzen flutet, die Natur in bizarrer Finsternis mit sich selbst kämpft; dann ist es für mich, als ob die Welt am Abgrund steht und im Begriff ist einfach auseinanderzubrechen, Schluß zu machen mit all dem Theater.

Ich stand am Fenster.

Ich bin nicht gewöhnlich. Damit meine ich: Ich glaube, dass die allermeisten Menschen, wenn sie mich kennenlernen, Vieles sehen und erfahren, das sie so noch nie erlebt haben. Ich mache beispielsweise Dinge, die anderen sinnlos, verrückt, wahnsinnig erscheinen. Und ich mache solche Dinge oft.

Ich stand am Fenster.

Jetzt bin ich im Garten.

Der Wind zerrt an meinen Kleidern und strömt massiv über meinen Körper. Er scheint beständig seine Angriffsrichtung zu wechseln. Ein naher Blitz bricht aus dem Sternenfeld.

Ich will Fußball spielen. Ich will in diesem Szenario des Untergangs ein paar Haken schlagen, imaginären Gegnern den Ball durch die Beine spielen und aus vollem Lauf ins Sträuchertor treffen. Schwerfällig und irgendwie neu sind meine Bewegungen. Wasser und Luft wüten um mich, während ich mit meinen Sohlen über das Leder streichle und mit einem Fersentrick glänze. Manchmal treibt mir der Wind den Ball davon. Der Regen ist schneidend hart und derartig dicht, dass ich durch zugekniffene Augen nur ein paar Meter weit sehe (Vollristschuß!)und so erscheint mir dieser Garten wie eine unerreichbare, gespenstersatte Insel. (Fallrückzieher!) Er ist die ganze Welt, von allem abgeriegelt, von allem gelöst. Ich bin im Exil der Alpträume. (Er sieht die Lücke!) Am Ende der Wirklichkeit. (Golden Goal!) Im Gartenstadion.

Plötzlich überkommt mich ein großes Gefühl von Freiheit. Allein und (für diese traumtrunkenen Momente) ohne Halt in der Realität glaube ich ein gigantischer Vogel aus stählernem Licht zu sein. Ich rufe in das Gesicht des Gewitters. Jedes Wort wirkt wie eine Hymne. Ich lache. Alles ist voll von Bedeutung und Größe und frei von Lügen und Fesseln. Ja! Diese Welt kann ich lieben.

Und dann.

Irgendwann falle ich erschöpft ins Gras. Das kalte Wasser kriecht durch den Stoff zu meiner Haut, legt sich in einem dünnen tropfenden Film auf meinen Körper. Egal. Ich ringe nach Luft. Meine Gedanken. Mein Befinden.

In den Wolken herrscht Krieg. Der Himmel kracht und kracht. Meine Finger spüren die Nähte meines Fußballs. Da sind wir. Drei Freunde im Jenseits der Alltäglichkeit. Ein Garten, ein Ball und ein Mensch.

Ich liege im Garten.

Ich stand am Fenster.

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