Reinhold Stumpf

Lit-Mag #37 
Myself & Others

Lies, oder stirb!

Filo ist online. Sie checkt die Mails, bevor sie mit der Arbeit beginnt: Werbung, eine Einladung zu einer Lesung eines ihr unbekannten Autors nach Sidney, noch mehr Werbung, die Versandmeldung der letzten Bücherbestellung bei Azemon und noch eine Nachricht vom selben Buchhändler:

Wir gratulieren zu Ihrem neuen Rezensenten-Status! Sie sind jetzt TOP 100 Rezensent!

Sie macht einen Schluck von ihrem Mate und schließt die Mailbox. Die Nachricht überrascht sie nicht. Schließlich war sie gestern nur einen Hauch von der magischen Marke entfernt. Für einen kurzen Moment wirkt der Mate wie Wein: ein warmes Prickeln breitet sich in ihrem Kopf aus, und in ihrer Brust spannt das Sonnengeflecht. Jetzt hat sie es offiziell, dass ihre Rezensionen nicht nur gelesen werden sondern auch hilfreich für Kaufentscheidungen sind. Sie kümmert sich nur wenig um den sportlichen Aspekt einer Rangliste der besten Rezensenten. Sie hat Spaß am Lesen und Freude am Schreiben. Sie liebt die Bücher, die Sprache und die Geschichten, und sie ist vielleicht ein wenig mitteilungsbedürftiger als andere Menschen.

Das Prickeln in ihrem Kopf verebbt wieder, und stattdessen klärt der Mate ihre Sicht auf das leere Blatt am Bildschirm. Neben ihr liegt ein Stapel Bücher, die sie tagsüber gelesen hat. Sie schlägt sie der Reihe nach auf, blättert kurz durch und beginnt dann zu schreiben. Sie schreibt so lange, bis ihr die Augen zufallen.

Am nächsten Morgen wacht sie früher auf als sonst. Es ist noch dunkel. Aus ihrem Arbeitszimmer scheint ein bläuliches Licht in den Vorraum. Ist etwas passiert? Steht die Polizei draußen auf der Straße? Der Notarzt? Das Licht bewegt sich nicht, und sie hört keine Sirenen, keinen Lärm. Sie quält sich aus dem Bett, um nachzusehen. Der Bildschirmschoner ihres Laptop-Monitors! Auf dem blauen Hintergrund hüpft ein kleines, buntes Fenster. Es ist die Bildschirmsperre, die sich automatisch aktiviert, wenn der Computer eine Zeit lang unbetätigt läuft. Heute machst du nicht so lange, denkt sie und schaltet die Espresso-Maschine ein. Morgens Kaffee für den Kick, tagsüber und abends Mate für die Ausdauer. So handhabt Filo das seit mehr als drei Jahren. Sie nutzt den frühen Tag und beginnt gleich mit der Arbeit. Da – eine neue Nachricht:

Ihr neuer Rezensentenstatus. Liebe Filo, es tut uns leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie nicht mehr TOP 100 Rezensentin sind. Ihr neuer Rezensenten-Rang ist 101. Mit neuen Rezensionen oder Bewertungen kann sich Ihr Rang natürlich jederzeit wieder verbessern.

Filo ist verblüfft. Schon klar, die Rangrechnung ist dynamisch und kann sich jeden Moment verändern. Trotzdem gefällt ihr die Angelegenheit nicht. Sie muss herausfinden, wo sie in diesen wenigen Stunden Punkte liegen gelassen hat. Vor allem aber interessiert sie, wer ihr den Rang weggenommen hat.

Die Liste ist öffentlich und leicht zugänglich. Auf Platz 100 liegt der Nickname Stan, ein alter Bekannter, der öfter zwischen 80 und 120 pendelt. Auf 99 die mysteriöse Sache mit Lisa_Lesa. Die Kollegin stürzte innerhalb von zwei Wochen von den TOP 10 Rängen ab! Vielleicht ist sie auf Urlaub? Oder gar eine Verschwörung? Und wer verdammt ist das auf 98? Cicero. Kennt sie nicht. Sie liest weiter runter. Dabei fallen ihr keine neuen Namen mehr auf. Cicero also! Wo kommt der auf einmal her? Das System gibt leider nur die aktuellen Tagesränge aus.

Filo steht auf und dreht ein paar Runden durch die Wohnung. Sie beginnt zu laufen. Sie schnappt ein Jacke und läuft das Stiegenhaus hinunter auf die Straße. Die Luft macht sie benommen. Die Frische ist ihr fremd. Als sie zum letzten Mal draußen war, zwitscherten noch die Vögel. Jetzt sind die Bäume kahl und leblos. Sie muss zu Aya. Ihr Internetcafé öffnet um sechs Uhr morgens. Wenn sie rechzeitig da ist, hat Aya die Web-Browser noch nicht refreshed und sie findet noch einen Cache von gestern. Aya hat nicht viele Kunden. Sie vertreibt sich die Zeit ebenfalls als Rezensentin von Azemon. Ihr Spezialgebiet sind Bücher über die Bienenzucht. Deswegen hat sie noch einen fünfstelligen Rang. Aber eines Tages wird sie den Laden hier dicht machen und unter die Imker gehen. Das ist ihr großer Traum. Türkischer Honig. Filo ruft Aya vorsichtshalber an. „Mach nichts an den Browsern!“ Nach vier Minuten ist Filo da. Aya ist ganz aufgeregt. Sie zeigt auf den Platz, an dem sie gestern geschrieben hat. Filo weiß, dass Aya die Angewohnheit hat, am Ende ihrer Arbeit in die Rangliste zu sehen. Seither wurde nichts mehr angerührt. Die Rangliste steht da, und sie ist von gestern 20 Uhr 11. Platz 100 für Filo.

„Siehst du hier irgendwo den Nick Cicero?“

Aya strengt ihre Augen an. „Da!“

„Wo denn?“

„Na da!“

Filo schüttelte den Kopf. Das war unmöglich. Das konnte nicht sein. Cicero war gestern Abend auf Platz 191.

Aya blättert in Ciceros Liste und rechnet nach. „Also, wenn man sich seine Bücher ansieht. Das sind hauptsächlich Bestseller. Und wenn zum Beispiel gerade ein paar Tausend Leute drei dieser Bestseller bewerten – theoretisch ist das schon möglich.“

Filo bleibt still. Dann sagt sie: „Cicero? Was für ein dämlicher Name.“

Sie rennt nach Hause. Der heutige Stapel Bücher ist in der halben Zeit als sonst abgearbeitet. Sie holt sich zusätzlich Bücher aus dem Buchladen. Die ganze Nacht durch hämmert sie in die Tasten. Doppelt so viele Rezensionen wie gestern. Am nächsten Tag dasselbe. Erst nach 48 Stunden wird sie müde. Bevor sie sich ein paar Stunden hinlegen möchte, ruft sie die aktuelle Rangliste auf. Ihr Herz rast, als sie ihren Namen sucht.

Filo auf Platz 91. Sie schließt erleichtert die Augen. Die Benachrichtungsmail hat sie gar nicht abgerufen. Und er? Cicero? 79.

Filo ist sicher, das geht nicht mit rechten Dingen zu. Wie konnte jemand in dieser Zeit noch mehr lesen und schreiben als sie?

„Ich wette, der liest die Bücher gar nicht“ sagt Aya am Telefon.

Das wird es wohl sein. Cicero, der große Manipulator, der Heuchler und Opportunist. Dem System ist es egal. Ob die Rezensionen etwas taugen, entscheiden die potentiellen Kunden. Filo will wissen, was sie tatsächlich taugen. Durch Anklicken des Nicknamen kommt sie auf Ciceros Profilseite. Dort kann sie alle seine Rezensionen abrufen. Sie fliegt über die scheinbar endlosen Internetseiten wie im Fieberwahn. Schnell hat sich ihr ein Muster eingeprägt: Cicero ist kein Freund von Sternen und geht äußerst sparsam mit deren Verleihung um. Filo schaut auf die Buchtitel. Die kommen ihr alle bekannt vor. Die meisten davon hat sie selbst besprochen! Das sind keine schlechten Bücher. Im Gegenteil. Trotzdem fanden Tausende Ciceros Verrisse hilfreich. Fast genau so viele fanden aber auch Filos durchwegs positiven Rezensionen hilfreich.

„Ich bitte dich“ sagt Aya. „Das ist doch ganz einfach. Entweder hat er einen Komplizen, oder er pusht seine Rezensionen selbst – mit einem zweiten Nickname.“

„Warum sollte er das tun?“

„Weil er die Nummer Eins werden möchte?“

„Organisierter Betrug, um die Nummer Eins unter den Azemon-Rezensenten zu werden und einen Einkaufsgutschein im Wert von 100 Euro zu gewinnen?“

„Was weiß ich, vielleicht hofft er, dadurch zu einer Zeitung zu kommen?“

„Dann sollte er sich aber vielseitiger zeigen. Ich dachte, die Zeit, als man mit Verrissen Aufmerksamkeit erregte, ist längst vorbei. Feuilleton und Buchhandel spielen doch zusammen.“

„Denk, was du willst. Ich hab grad einen Kunden.“

Als Filos Augen zufallen, fällt ihr ein, dass sie heute nichts gelesen hat außer Ciceros Rezensionen. Sie hat selbst keine einzige Besprechung geschrieben. Sie hofft darauf, dass das System für sie arbeiten wird, und die Bewertungen der Leser sie ein paar Plätze nach vor rücken lassen. Der Abstand von Cicero wird sich vergrößern, dagegen kann sie nichts mehr machen.

Um halbsechs Uhr morgens klingelt das Telefon. Es ist wieder Aya.

„Ich hab da was gefunden.“

„Aya, es ist mitten in der Nacht.“

„Der Typ tanzt aus der Reihe. Er scheint doch ein paar Lieblingsbücher zu haben.“

„Auweia! Ich will mit dem Freak nichts mehr zu tun haben!“

„Nur ganz kurz: Kennst du Carl Romero?“

„Wen? Nein.“

„Clemens Climt?“

„Keine Ahnung. Was sind das für dämliche Namen?“

„Das sind Autoren. Romero schreibt Krimis und Climt so normale Romane.“

„Na, die scheinen ihm halt zu gefallen.“

„Filo, wenn man beide Namen in Suchmaschinen eingibt, dann kommt da nicht viel. Nur Links auf Online-Buchhändler. Keine Biographien. Keine Rezensionen.“

„Du glaubst doch nicht etwa – “

„Ganz genau! Unser Cicero tritt als Autor unter diesen Pseudonymen auf und versucht sich auf diese Weise gegen seine Konkurrenz durchzusetzen. Er nimmt die Bücher seiner Kollegenschaft auseinander und lobt seine eigenen in den Himmel.“

„Der Typ hat sie nicht mehr alle.“

„Das Beste kommt erst.“

„Na sag schon.“

„Ihr seid nur noch drei Ränge auseinander.“

Filo schnellt hoch. „Was?“

„Er ist auf 6 und du auf 9. Ich muss jetzt. Wir hören uns später.“

Filo macht den Computer an und ruft die Mails ab.

„… Sie sind jetzt TOP 10 Rezensent!“

Bücher! Wo sind Bücher?

Bevor Filo verstehen kann, wie sie über Nacht so viele Ränge gewinnen konnte, durchfährt sie ein Gedanke: Sie muss dieses Duell für sich entscheiden. Sie muss statt Cicero die Nummer Eins werden. Der Betrüger darf nicht gewinnen. Das Böse muss vernichtet werden.

Heute kommt keine Lieferung. Es ist Sonntag. Die Bibliothek und die Buchläden haben geschlossen. Aya! Sie ist die einzige, die ihr helfen kann. Sie hat bestimmt noch jede Menge ungelesene Bienenzuchtratgeber. Filo muss wieder hinaus in die Kälte.

„Ich brauche Stoff. Egal was.“

Aya will Filo beruhigen.

„Ich hab doch gesagt, ich hab nichts mehr.“

„Das glaub ich dir nicht.“ Filo zeigt auf ein aufgeschlagenes Buch ganz hinten bei einem Bildschirm. „Und was ist das?“

„Das geht dich nichts an.“

„Lass mich durch, verdammt!“

Aya versucht Filo festzuhalten, doch Filo kann sich losreißen. Sie stürmt nach hinten und greift nach dem Buch.

Carl Romero: Lies, oder stirb.

Sie lässt das Buch fallen und dreht sich um zu Aya.

„Du?“

„Ich hatte wenig Kundschaft und viel Zeit, und ich kannte deinen Traum. Nimm das Buch. Lies es. Es ist die einzige Chance, deinen Traum wahr zu machen.“

„Oder ich sterbe?“

„Das Ende werde ich dir bestimmt nicht verraten.“

Aya grüßt freundlich und geht hinaus. Filo sieht ihr nach und weiß, dass sie wohl nie mehr zurück kommen wird. Sie nimmt das Buch und beginnt darin zu lesen. Die Geschichte fesselt sie. Es ist ein Buch ohne Ende. Die Seiten werden mehr und mehr, je länger sie liest. An den Schaufenstern des Internetcafés geht der Tag vorüber, und als es schon lange dunkel ist, blättert Filo ein letztes Mal um. Sie ist erschöpft aber erleichtert. Schnell schreibt sie noch die Rezension, und sie spürt, dass das beste Buch ihres Lebens die beste Rezension ihres Lebens zur Folge haben wird. Im Halbschlaf sendet sie ihre Besprechung ab und bricht schließlich zusammen.

Als sie aufwacht, sieht sie ein blaues Licht. Bestimmt liegt sie in einem Krankenwagen. Sie hört keine Sirene, kein Motorengeräusch, keine Stimmen. Ihr Blick wird klarer, sie kommt zu sich. Sie liegt in einem Bett. Die Risse an der Decke kennt sie von irgendwo. Sie kann durch die Tür in ihren Vorraum sehen. Das Licht kommt aus ihrem Arbeitszimmer. Es ist der Bildschirmschoner ihres Computers. Sie reibt die Augen und richtet sich langsam auf. Auf dem Weg in die Küche gähnt sie einige Male. Sie schaltet die Espressomaschine ein und setzt sich an den Schreibtisch.

Keine neue Nachrichten.

Sie lehnt sich zurück und atmet durch. Der Kaffeeduft macht sie glücklich. Dann bekommt sie Lust auf ein Stück Brot mit türkischem Honig.

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