Lucas Cejpek

Charybdis Thursday Island

Ich richte mich ein, ja, ich setze mich zusammen, da Herr Test das Flugzeug nimmt und gleich zweimal abstürzt. Ich, ich träume in meinem, meinem Hotelzimmer auf Thursday Island meinen, meinen Absturz als Odysseus. Ich, ich wähne mich zwischen zwei Kriegen und finde Halt zwischen dem, was war, und dem, was sein wird. Nach meinem, meinem Abflug sehe ich, ich mich, mich im Cockpit des Fluges Nr. XXXX der Lauda Air und stürze neuerlich ab. Schubumkehr? So nehme ich zu, so lade ich mich auf.
GROND, Absolut Homer.

I

Wenn die Kameraden von Troja erzählen. Keine Angst. Wenn sie davon erzählen, was war. Ithaka und was geschehen könnte.
Ich stellte mich vor den Spiegel und legte die Stirn in Falten. Ich gähnte mit weit geöffnetem Mund. Ich schrie.
Keine Angst. Als ich den Anruf bekam. Meine Koffer waren gepackt. Als ich von Pen Abschied nahm. Keine Angst. Und am Flughafen eintraf. Meine Kameraden.
Wir hatten nichts anderes zu tun als zu warten. Der Flug beginnt mit Warten. Jede Aktivität setzt aus, jede Gegenwehr gegen die Zeit.
1. Keine Angst. 2. Wenig Angst. 3. Viel Angst. 4. Sehr viel Angst. 5. Panik.
Wenn sich die Türen schließen. Die Höhe. Und keine Luft. Oder ein Herzanfall. Wenn ich ohnmächtig werde. Wenn ich festgeschnallt bin. Und die Maschine brennt, explodiert, die Maschine stürzt ab.
Und weiter: Ich falle. Weiter: Ich werde bewußtlos. Und: Ich pralle auf.
Habe ich Schmerzen? Merke ich überhaupt nichts? Bin ich tot? Was ist dann?
Keine Angst. Als ich die Ansagen hörte. Als ich die Anzeigetafeln las. Als ich die Aufrufe hörte, den Düsenlärm, und die Maschinen sah und das Rollfeld. Als ich meine Maschine sah und sah, dass sie schwarz war.
Ich wußte, was ich zu fürchten hatte. Kirke hatte mir alles gesagt. Was ich zu tun und zu lassen hatte. Alles, nur keine Gegenwehr.
Und wir stiegen die Stufen zum Einstieg hinauf und traten ein und gingen zwischen den Sitzreihen durch und suchten unsere Sitze und schnallten uns an.
Ich war im Cockpit allein. Neben mir Penelope, Pen!, und ich weinte. Tränen! Ich konnte sie nicht erreichen. Wie Kirke gesagt hatte, die Kameraden. Die Heimkehr wurde uns zur Gefahr.
Die wir uns suchten, Gefahr. Die Schönheit ist männlich. Die Steuerung mittels Nacken, Schenkel und Arsch. Wir flogen.
Die Wolken zogen sich zurück und gaben das Blau des Himmels frei. Der Himmel in seiner ganzen Blöße. Das nackte Blau.
Und wir flogen. Ithaka war mein Ziel. Daß wir flogen. Heimwärts, diese Weite. Ich konnte vorwärts gehn wie nach oben, nach unten und zurück. Ich konnte, wie auch immer ich wollte: Alles war meine Bahn.
Der Boden, Ithaka war meine Grenze. Nachdem Troja gefallen war: Ithaka! Ich flog. Westwärts, gegen die Zeit. Ich wußte, dass ich nicht sterben konnte. Ich war in der Luft. Das Licht.
Himmelslicht. Blau. Zum Zeichen meiner Ungeduld: Loopings: zum Zeichen meines Zorns. Wenn ich an Ithaka dachte: Troja! Du hast mich empfangen im Blut, das ich vergießen werde, das Blut fremder Männer.
Tragflächenschaukeln hieß Sorglosigkeit. Auch Mattigkeit. Müdigkeit, wenn ich an Ithaka dachte, stellte ich die Motoren ab und überließ die Maschine dem Wind.
Bis es passierte. Plötzlich: Der Bereich der Zwischenfälle ist so groß, dass es unmöglich ist, einen Zwischenfall zu definieren. Deshalb kann ich auch nicht mit Sicherheit sagen, was geschehen ist an diesem Tag.
Die Wettervorhersage: Mittlere bis gefährliche Turbulenzen in Verbindung mit Gewittererscheinungen mit eventuell extremen Turbulenzen bei schweren Gewittern.
Das war gestern. Heute, das Wetter war klar. Die Gewittergebiete, zwischen denen ich flog, waren 30 Kilometer entfernt. Flughöhe 7.000 Meter. Ich schaltete den Autopiloten ein und begab mich nach hinten.
Die Maschine begann zu rütteln. Die Kameraden wurden in ihre Sitze gepreßt. Ich fand mich am Boden wieder. Auf allen vieren kroch ich von Sitz zu Sitz nach vorn und in meinen Sitz.
Die Wolkendecke war erreicht. Flughöhe 2.700 Meter. Gas. Der Schub in meinem Rücken, mein Gewicht am unteren Teil meines Rückgrats. Die Maschine stieg steil auf.
Ich drückte die Maschine herunter, um in einen Geradeausflug überzugehn. Und das Wasser wich zurück, und eine Insel stieg auf, eine Inselgruppe.
Ich wurde von meinen Sicherheitsgurten gehalten, während die Kameraden aus ihren Sitzen gerissen wurden und flogen, die Bierflaschen und Whiskyflaschen, gegen die Decke, wo sie schreiend hingen, die Kameraden, bis die Maschine wieder in den Geradeausflug überging.
Mein ganzes Gewicht auf meinem Sitz. Ich zog eine Schleife. Ich flog mit konstanter Geschwindigkeit geradeaus, als es passierte. Plötzlich.
Ein Staubkorn am Himmel. Ich sah es, sofort, aus dem Augenwinkel. Ich sah: eine fremde Maschine. Und dass sie schwarz war. Ich sah das Gesicht der Pilotin.
Pen!, und ich wachte auf. Ein plötzlicher Aufwind hob mich empor, ich drückte die Maschine nach unten. Das Wasser. Die Weichteile des Gesichts sind abgesunken, die Haut ist bleich, grauer Schleier.
Der Aufwind trug mich hoch, schwarzer Schleier, mit 3.000 Metern pro Minute nach oben. Vermehrte Lungenventilation, die Zwerchfellbewegungen sind sehr eingeschränkt. Eine Insel.
10.000 Meter, 12.000 Meter, Abwind. Wadenkrämpfe, die unteren Gliedmaßen nehmen an Umfang zu. Mit 300 Metern pro Sekunde dem Boden entgegen, Bewußtseinsverlust.
Sturzgeschwindigkeit 890 Stundenkilometer. Das Herz ist leer. Die Maschine überschlug sich und blieb mit der Unterseite nach oben liegen.
So muß es gewesen sein. Als ich erwachte, am Himmel Asche, Bleistifte, Gläser, Taschenlampen, Handbücher, Zigarettenkippen. Wir hingen in unseren Sitzen festgeschnallt, Kopf nach unten.
Keiner rührte sich, es war vollkommen still. Ich schnallte mich ab und ließ mich fallen. Die Kameraden blieben völlig ruhig mit dem Kopf nach unten hängen.
Ich schnallte sie ab, und sie fielen in meine Arme. Einer nach dem andern. Ich half ihnen auf. Zum Ausgang. Einer suchte nach Zigaretten, ich schlug ihm ins Gesicht, ein anderer nach seinem Portemonnaie.
Ich schlug ihnen ins Gesicht. Die Ausgangstür. Ich schrie. Ich zerrte an ihrer Montur. Ich flehte sie an auszusteigen. Sie rührten sich nicht.
Einer stand in der Tür und weigerte sich hinunterzuspringen. Ich trat hinter ihn und trat ihm in die Kniekehlen und in den Rücken, ich trat sie hinaus. Einen nach dem andern.
Der letzte, der sprang, war ich. Traumlos geschlafen. Ich weiß, ich habe geträumt, ich habe alles vergessen. Der Fernseher läuft, und ich schenke mir von meinem Whisky nach, zollfrei von der Isle of Skye, und drehe den Ton auf. „Call me!“
Nach Mitternacht sehe ich, was ich morgen in einem der General Stores sehen werde, zwischen Haushaltsartikeln verstaubte Videos: Sex. „Call for the most fun You can have on the phone!“ Das Gesicht und das Telefon, Standardausführung.
Dazwischen ist nichts. Keine Stimme, kein Körper. Der Kommentar sagt mir, was ich sehe, die Telefonnummer, nachdem ich gesehen habe: Das Kleid ist wie die Lippen rot. Oder eine Portraitgalerie, weiblich, unten links ein Männergesicht. Ich dämpfe die Zigarette aus.
Ich stehe auf und trete ans Fenster. Am Himmel die Sterne: Ein Mann (Kentaur und Wolf) steht in einem Kanu (Körper und Schwanz des Skorpions, der Anker der Schütze), in der linken Hand einen gezackten Speer (Kreuz des Südens), sorbi oder Eugenia, eine apfelähnliche Frucht mit roter Schale (der Rabe), in seiner rechten Hand.
Tagai, und ich erinnere mich: Am Ende der Geschichte wird der Jäger in einen Felsen verwandelt. Harry Massi wird mir davon erzählen, und von Basooki, der sich in einen Gimpel verwandelt hat. „Er ist nach Mer geflogen, um nach unsren Familien zu sehn. Er ging auf den Mast zu und plötzlich war er vor unsern Augen verschwunden.
Dann hörten wir das Geräusch von Flügelschlag in der Nacht. Eine Stunde später schauten wir auf und sahen einen Gimpel am Mastkorb. Dann erkannten wir plötzlich Basooki an Deck. Er hatte eine Mangoblüte im Haar. Er sagte, er habe sie von Mer mitgebracht, und unsere Familien seien wohlauf.“
Es ist vier Uhr früh, und ich liege wach. Der Fernseher läuft, Musikvideos ohne Ton. In 12 Stunden werde ich an der Hauptstraße stehen, vor einem der General Stores, und ein Wagen wird aus der Kolonne ausscheren und vor mir parken. Eine Frau wird aussteigen, und ihre Haut wird noch weißer sein in dem schwarzen Kleid.
Und Mark wird mich fotografieren, an eine der Kanonen gelehnt, hoch über dem Ort, die grüne Kette der Inseln im Hintergrund. Die Soldaten haben vergeblich auf russische Schiffe gewartet, wie sie 50 Jahre später vergeblich auf die Japaner gewartet haben. Die Kanonen ragen schwarz gestrichen ins ungeschnittene Gras.
Und ich werde in den „Torres News“ lesen, in den „Police News“ auf Seite 2, dass die Rettung am letzten Samstag um 4 Uhr 30 die Polizei benachrichtigt hat, dass ein Toyota Landcruiser mit Colin Walter Brand am Steuer offensichtlich außer Kontrolle geraten ist, gegen den Rinnstein gestoßen ist und sich überschlagen hat.
Bei meiner ersten Inselrundfahrt gestern abend habe ich die Stelle mit eigenen Augen gesehn, eine übersichtliche Kreuzung. Der Flugzeugmechaniker an der Bar hat vom Spital erzählt, dass es hier nicht einmal Sauerstoff gäbe, keine Chance. „He had no chance at all.“
Ein Schluck Mineral – ich trinke kein Leitungswasser, obwohl das Wasser hier, wie mir Michael versichert hat, aus dem Reservoir kommt, von der höchsten Erhebung der Insel, zwei dreieckige, dreckig-braune Teiche, die ich noch sehen werde, das Regenwasser wird zum Großteil über eine Pipeline unter dem Meer von Horn Island herübergepumpt – und eine Zigarette, während das Nachtprogramm ausläuft, Musikvideos noch bis sieben.
Dann Nachrichten. Die „Torres News“ liegen in der Mitte aufgeschlagen auf meinem Bett, französisches Doppelbett, das Fernsehprogramm von Freitag bis Donnerstag, zwei Kanäle, ABC und Ten, der Sender steht über dem Reservoir, „Caution“. Ein Drahtgitterzaun, an dem sich Efeu hochrankt oder wilder Wein bis über den Aufsatz aus Stacheldraht.
Meine Festung liegt nach wie vor im Dunkel, mein Garten. Blumentisch, -schale, -ständer: jardiniere. Das Paradies ist künstlich. Die Kerube und das zuckende Flammenschwert. Nachdem das Grand vor zwei Jahren abgebrannt ist, ist das Jardine das erste Haus am Platz. Und weil es so neu ist, ist es in keinem Reiseführer verzeichnet.
Die Kerube heißen Michael und Mark. Michael ist blond, Mark ist schwarzhaarig. Beide sind um die 30. Und vom Festland, wie sie mir erzählt haben, sind sie auf eine Annonce hin hierher gekommen: to make money. Also machen sie alles: Portier und Putzmann, Chauffeur, Kellner, Barmann.
Somerset Maugham ist 1916 hierher gekommen, nachdem er in Sydney gehört hatte, das hier sei der letzte Ort, den Gott geschaffen habe, das Letzte. Daß es hier nichts zu sehen gäbe und dass man ihm die Kehle durchschneiden werde.
Maugham hat auch nichts von der Insel gesehn als das Hotel nach seiner nächtlichen Ankunft – das Grand, von dem noch die Grundmauern stehen, und Hinweisschilder – und den 93jährigen French Joe auf dessen Sterbebett im Spital, seine Stimme schwand immer wieder und plötzlich, sie klang, als spräche er aus dem Grab.
Das „Torres Strait Radio“ meldet sich heute erst wieder am abend, um viertel nach sieben, eine Dreiviertelstunde „Party Line“, und ich stehe auf und schalte die Lüftung ein. Der Lärm treibt mich ins Bad und unter die Dusche, die stickige Luft. Das Fenster ist fest verschlossen, damit die Lüftung funktioniert, die einzige Verbindung nach draußen.
Mittwoch, 6. April, 2 Uhr nachmittag: Tätlicher Angriff auf einen Mann in Aunt Mary’s Bakery, zwei Häuser von mir entfernt an der Promenade. 9 Uhr nacht: Tätlicher Angriff auf eine Frau in der Bar des Torres Hotel, eine Parallelstraße weiter, die Hauptstraße dieses „einzigartigen Orts“, wie Willie Nelson, der einzige hauptberufliche Fremdenführer, annonciert, „ein Bauerndorf auf einer Insel.“
3.000 Einwohner, Insulaner der Torres Straße, von Papua, den Philippinen, Malaysien, Indien und Sri Lanka, Japan, China, Aborigines und Europäer. Ich werde keinen von ihnen sehen, wenn ich zu Mittag zum ersten Mal durch den Ort gehen werde, das Gesicht und die Unterarme, Nacken und Hals mit Sonnenmilch eingecremt, und den Hut tief in die Stirn gedrückt, ich halte ihn am Riemen fest, unterm Kinn.
Es ist 5 Uhr früh, und ich stehe am Fenster, ein Handtuch um die Hüften geschlungen, und mühe mich mit dem Fenster ab. Bis es sich öffnet, einen Spalt breit. Ich kehre ins Bett zurück, nachdem ich die Lüftung abgestellt habe: das Pfeifen.
„Der Wind ist eine Person,“ wird Harry sagen. „Sogar der Zyklon, der große Wind, wird von uns nicht beim Namen genannt. Wir nennen ihn Em.“ Und die Taube, die gegen Ende der Südost-Saison den Halbkreis der Inseln beschreibt, südwärts auf Nahrungssuche, nennen die Eingeborenen „gainau“: Sie legt ihre Eier in die Mangroven der Ostküste von Cape York und kehrt mit ihren Jungen nach Nordwesten zurück, nach dem Nordwest-Monsun.
Schlaflos am Fenster, Nacht. Drei Lichter unter dem Himmel, der überschwemmt ist mit Sternen. Tagai, und ich suche nach einem System, das mir hilft, mich zurechtzufinden, zwischen Schiffbruch und Kopfjägern, wie die Chroniken sagen, am Rand der Welt.
„Vielleicht gibt es keinen Ort von dreieinhalb Längengraden, der mehr Gefahren in sich birgt als die Torres Straße“, hat Matthew Flinders notiert, als er sie 1792 passierte, an Bord der „Providence“, Captain Bligh hat 23 der 150 Inseln kurzerhand nach dem Alphabet benannt, mit den Buchstaben A bis V.
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten. Und die drei Lichter draußen am Meer werden Fischerboote sein. Wenn es hell sein wird, in einer guten Stunde werde ich alles sehn: das Grau des Asphalts, die braunen Sandstreifen, der Grünstreifen zum Meer hin, der Strand.
Auslegerboote, die in der Sonne verrotten, Hunde und spielende Kinder. Tom Nakata, der hier geboren wurde, wird mir von seiner Arbeit beim Zoll erzählen – Inspektionen auf See, Quarantäne – und seine Evakuierung erwähnen – Internierung am Festland von 1942 bis 46 – während wir auf den Stufen sitzen, die hinunterführen zum Strand: grauer Sand, nasses Braun und Steine.
„Schiffbrüchige sind keine Menschen. Sie sind die Geister der Toten,“ wird Harry sagen und mich durch sein Haus führen, das wie die meisten Häuser hier auf Pfählen steht, damit die Luft unter dem Boden durchstreichen kann und durch das Haus, Fenster und Türen stehen offen.
„Wir haben ein Feuer gemacht, ein großes Feuer. Nachdem es heruntergebrannt war, bauten wir einen Rost, auf den wir die Toten legten. Wir haben sie einbalsamiert und mit weißen Federn bedeckt. Dann wurden sie über der Erde bestattet.“
Tom wird mich zum japanischen Friedhof führen, unter Bäumen lichtblaue Stelen, und Bäume, die aus den Gräbern wachsen, Feigen. Er wird mir den Wongai zeigen, die roten Früchte sind noch nicht zu sehen. Oder nicht mehr, es ist Herbst. Und er wird mir erklären: „Wer seine Früchte ißt, wird wie die Taube wiederkehren.“
Zum Abschied wird mir Harry eine kegelförmige Muschel schenken, „wauri“, damit ich begreife, was er mir gesagt hat, während Tom, als ich ihn zum Auto begleite, noch einmal sagen wird, was hier in den letzten Jahren alles geschehen ist. Und ich werde die astronomischen Preise – die Tafeln zwischen heruntergekommenen Häusern im wuchernden Gras – mit anderen Augen sehen.
Halb sechs. Ich habe das Fenster geschlossen: die Stille, das flackernde Licht: Der Fernseher läuft, und ich liege wach. Wie oft habe ich schon die Zeitung gelesen und wie viele Bücher, bevor ich hierher gekommen bin? Um zu vergessen. Ich stehe auf und gehe ins Bad.
Seit den 50er Jahren, nach 100 Jahren Perlmuschelfang, gibt es hier keine Arbeit mehr. Plastik statt Perlmutt: Wohlfahrt und Kinder. 35 öffentliche Einrichtungen für die 10.000 Bewohner der Torres Straße, die sich als eigene Nation empfinden: „Selbstverwaltung bis zum Jahr 2001“.
Jetzt wird das Ergebnis der zweiten Kommunalwahlen angefochten, zumindest auf Yam. Die „Torres News“ bringen die Fotos der Ratsvorsitzenden von Badu, Darnley, Dauan (eine Frau), Hammond, Saibai, Seisia, Stephen und Yorke. Auf dem Foto am Titelblatt sind junge schwarze Frauen in kurzen, weißen Kleidern zu sehen, weiße Schleier und Schuhe, und in der Mitte, bis über den Kopf, bis zum Boden in Weiß, ein Mann.
Es ist kurz vor sechs, und ich muß mich für eines der Badetücher entscheiden, die alle gleich aussehen, grün. Mein Doppelzimmer ist für drei gedacht: Neben dem Doppelbett steht ein weiteres Bett an der Wand, für die überzählige Decke, den Polster, den Überwurf in der Farbe der Wände, grau mit bunten Flicken.
Über meinem Bett hängt ein Bild von Harry Nona, der hier geboren wurde, 1971 auf dieser Insel, der Captain Cook auf der Heimreise von Tahiti ihren Namen gegeben hat, an einem Donnerstag 1770. Oder es war ein Mittwoch im Jahr der Französischen Revolution, als Captain Bligh im offenen Boot Wednesday Island passierte, an Tuesday Island vorbei Richtung Westen: Thursday und Friday Island.
Keiner von beiden hat seinen Fuß auf die Insel gesetzt, die in der Sprache der Eingeborenen „waiben“ heißt oder „trockener Ort“. Das Bild über meinem Bett zeigt zwei Tintenfische, Weiß auf blauem Grund, die Girlanden der Wellen. Ich stelle den Wecker ab, der auf halb acht gestellt ist – Frühstück von sieben bis neun – mein Wecker auf Ortszeit.
„Stellen Sie Ihre Uhr zurück.“ Und ich wartete auf die Nacht. Ich legte die Augenbinde an, die vor dem Start verteilt wurde, mit den Kopfhörern. „Geben Sie die Kopfhörer vor der Landung zurück, Sie können sie anderswo nicht verwenden.“ Der Bildschirm zeigte mir, wo ich mich gerade befand. Wieviele Kilometer vom Ort des Abflugs entfernt, die Zeit bis zur Ankunft.
Die Entfernung wächst, die Zeit läuft ab. Im geschlossenen Kreislauf der Maschine. Spielfilme, Videoclips, Neues aus der Welt der Mode, Nachrichten: „Inflight News“, Chanel 9: Fortsetzung des Festlandprogramms. Der Ton zum Bild auf Kanal 1 oder 2. Die restlichen zehn Kanäle: Endlosschleifen.

Auf dem Weiterflug werde ich den Anfang eines Interviews mit einem australischen Schriftsteller hören, der in Frankreich lebt und einen Roman über den Völkerbund geschrieben hat. Die Hauptfigur ist eine australische Diplomatin, ihr Vorbild eine kanadische Diplomatin, deren Hand der Autor gehalten hat, dieselbe Hand, die Roosevelt die Hand gedrückt hat, und so weiter zurück.
Wenn es Odysseus gegeben hat, muß es jemanden geben, der mit ihm über Handschlag verbunden ist. Ich nehme die Automatikkamera vom Nachttisch und stelle mich vor den Spiegel, links oben der Fernseher läuft, Musikvideos ohne Ton, und drücke ab. Ich schalte den Ventilator an, der sich in der Mitte des Zimmers dreht, und lege mich auf das Bett.
Die zweite Zigarette vor dem Frühstück, das ich allein einnehmen werde, meine dunkelblaue Windjacke hängt über dem Stuhl rechts von mir, weißes Plastik die Stühle und Liegen am achterförmigen Pool, in den Meerwasser rinnt, über am Beckenrand aufgeschichtete Steine.
Die Mauer ist hoch genug, dass ich niemanden vorbeigehen sehen kann, wenn ich unter dem Vordach sitze, und das Meerwasser rinnt über die aufgeschichteten Steine in den achterförmigen Pool. Nur der Kopf eines Traktorfahrers, links von mir der schwarze Kopf über der lichtblauen Mauer, die grüne Krone der Feige.
Vor mir in den Palmen heftiger Wind, während sich über mir die Ventilatoren drehen. „Are You from T.I.?“ Aus den Lautsprechern in meinem Rücken Musik: Cessa, Rita und Ina. Die Mills Sisters, Mangoblüten im Haar, die Augen sind hinter den spiegelnden Gläsern nicht zu sehen.
Sie tragen T-Shirts mit Palmen, wie ich sie in jedem Andenkenladen hier finden werde, T-Shirts mit Schildkröten oder Krokodilen, und die Musikkassette der Schwestern, das Meerwasser und Besteckklimpern rechts aus der Küche, die Köchin begrüßt einen weiteren Gast: der „Captain“ in weißen Plastiksandalen und abgeschnittenen Jeans.
Die grauen Bundfaltenhosen der Stewardessen, wenn sie sich strecken, die Stewardessen, um die Handgepäckfächer zu schließen. In der Propellermaschine zuletzt wie im Jumbojet: Gleich nach dem Start ein Ablenkungsimbiß. Jetzt kein Menü mehr, sondern ein Sandwich.
Weil ich gestern nichts zu abend gegessen habe, werde ich eine Omelette nehmen, natürlich extra. Hier ist alles extra, im Zimmerpreis nicht das Frühstück und im Frühstück nicht die Omelette inbegriffen.
Nachdem ich das Zimmer im voraus bezahlt habe, werde ich anschreiben lassen: das Frühstück, eine Omelette, ein Glas Bundaberg, mehrere Flaschen Bier, zwei Filme, mehrere Ansichtskarten, die Zeitung, das nächtliche Ferngespräch.
Ich ziehe mich an, meine Jeans, weißes Hemd, und setze mich ans Fenster, der Busch, dunkles Grün, die Schlangenlinien der Flüsse und Nebenflüsse, das Meer, Grün, das hellere Grün der Riffe, der Busch und das Grau, eine Rollbahn mitten im Busch, und die Maschine zog eine Schleife, zurück aufs Meer.
Die Windmaschine in meinem Rücken, während es draußen schlagartig hell geworden ist – 6 Uhr 25 – und der Wind die Palmen bewegt, die Fahne, die mich an die UNO-Fahne erinnert: auf blauem Grund ein weißes Hufeisen, das in der Mitte zerbrochen ist, um einen weißen Stern.
Und die Maschine zog eine Schleife, zurück aufs Meer, fuhr die Räder aus, direkt vor meinem Fenster, und setzte zur Landung an. Wir stiegen aus und gingen, Maschinen der unterschiedlichsten Bauart waren über das Flugfeld verstreut, durch die Ankunftsbaracke: Horn Island.
Die Fahnenstange, der Strommast, die Kabel. In der Waagrechten die Bergrücken der Inseln – in der Mitte das Festland, die australische Landspitze – Wolken.
Das Gepäck wurde in einen Anhänger gestapelt, und der Kleinbus fuhr viel zu schnell über die Piste, an einem Werkgelände oder Schrottplatz vorbei, Buschwerk, bis wir das Meer erreichten. Von der Betonplattform stiegen wir in die Fähre hinunter.
Die dünnen, roten Streifen in der Fahne, die das Türkis vom Blau trennen. Das gebrochene Hufeisen erinnert mich an einen Helm, oder eine Mädchenfrisur, der Kopf ist ein Stern.
Das erste Zeichen meiner baldigen Ankunft: ein Rettungsring, Schwarz auf Rot: „Thursday Island“. Eine halbe Stunde später – ich schaute längst nicht mehr auf die Uhr – legten wir an.
6 Uhr 34. Das Lichte, das Blau. Das Lärmen der Vögel. Die Vögel, aus denen, wie man hier sagt, die Toten sprechen. Vögel und Schlangen, andere Tiere gibt es hier nicht. Und Ameisen, die spitze, baumstumpfähnliche Bauten aufführen, in der Mitte ein senkrechter Spalt.
Ich wandte mich an einen dunklen Mann, der am Pier stand, die Hände vor sich am Geländer, und aufs Meer hinausschaute: „Hotel Torres?“ Ich wiederholte meine Frage und setzte ein „please, Sir“ hinzu. Worauf er eine Hand vom Geländer hob und nach links deutete.
Jedesmal, wenn ich aufschaue, hinaus, hat sich die Szene aufgehellt, der grüne Bug meines Schiffs, das Dreieck der Palmen, der Sonnenschirme – drei graue Schirme – und draußen liegen drei Boote vor Anker.
Auf dem Parkplatz am Ende des Piers stiegen zwei Weiße in einen Lastwagen: „Hotel Torres?“ – „Ich nehme Sie mit,“ sagte der Fahrer und wies auf die Ladefläche: ein paar Gepäckstücke, Rostflecken, ein Ölfleck.
Ein Boot zieht durch das Dreieck der vor Anker liegenden Boote, nach wie vor in voller Beleuchtung. Die Sonnenschirme, das Dach rechts von meinem Fenster ist grau, und unter mir die weißen Röhren des Vordachs: „Somerset Restaurant“.
Im Werbeprospekt ist die Aufschrift zu sehen, Blau auf Weiß, das dreiteilige Vordach – nachdem die erste europäische Siedlung an der Spitze Cape Yorks (1864) vom Untergang bedroht war, hat John Jardine die Stadt seiner Eltern hierher verschifft (1876) – das weiße Dach des Motels, der weißgestrichene Metallzaun wurde durch eine lichtblaue Mauer ersetzt.
Auf dem Rasen gegenüber, auf der anderen Seite der Straße – Normanby Street, die Jardine Street ist die nächste Parallelstraße westlich – erinnert ein Stein unter einer mächtigen Feige an die Jardines, der Stein ist mit einer leeren Bierflasche gekrönt: XXXX.
So heißt hier das Bier, Four X oder Rot oder Gelb oder Blau vor irgendeinem Namen. Ich habe die Marken vergessen, die ich probiert habe, alle, um zu vergessen. Daß ich hier bin. Warum ich hierher gekommen bin.
Ich warf meinen Flugkoffer hinauf, und meinen Bordkoffer, und stieg über die Tritteisen hinauf, über die Seitenklappe auf die Plattform. Ich nahm auf meinem Flugkoffer Platz und hielt mich an der Verstrebung fest.
Der Laster bog nach rechts ab, nach links, wieder links die Straße hinunter: Wellblech und Holz, zum Teil bunt bemalt, zum größten Teil ausgebleicht, staubig, die Fenster vergittert.
An der zweiten Querstraße, unter einer mächtigen Feige hielt er an: Rot auf Gelb: „Australia’s ‚Top‘ Pub“. Der Fahrer wünschte mir noch viel Vergnügen.
6 Uhr 48. Ein blonder junger Mann in leuchtend blauen Shorts geht vorbei, ein schwarzer Mann in dunkelblauen Turnhosen, und keine Frau, der ich folgen wollte, mit dem Blick aus dem Zimmer und auf die Straße, die Promenade entlang, vorbei an IBIS-Store und Federal Hotel, zwischen Boat und Bowls Club und Football-Feld. Und von all dem nichts sehen, nichts als ihren Gang, den Hügel hinauf, am Gerichtsgebäude vorbei und auf die Polizeistation zu.
„Ein Zimmer für eine Nacht.“ Ich zahlte im voraus. Ich war ohne Gepäck gekommen. Mark begleitete mich zum Torres, um meine Koffer zu holen, mit dem Bus. „Für die paar Schritte.“ Es wurde langsam dunkel.
Er stellte den Bus auf dem Parkplatz ab und folgte mir die Treppe hinauf in mein Zimmer. Er kümmerte sich um mein Gepäck, während ich in den Schankraum hinunterging, um den Schlüssel zurückzubringen, und das leere Bierglas.
„I like your jacket.“ Ein junger Farbiger zupfte mich am Ärmel. „Gib sie mir,“ sagte er. Und eine Farbige sagte, „Scheiß Tourist!“
Der Wirt schenkte schwitzend ein Bier um das andere aus und kassierte, während mich ein Weißer in ein Gespräch über die gemeinsame Überfahrt zog.
Und die Wirtin kam mit meinen Buchungsscheinen: „Regeln Sie das selbst mit dem Reisebüro.“
Ich ging durch den Vordereingang auf die Straße und um das Haus herum auf den Parkplatz, wo der Bus auf mich wartete: meine erste Besichtigungsfahrt: T.I. by night.
„Ich würde hier nicht spazierengehen,“ sagte Mark, „nicht bei Nacht. Meiden Sie das Torres.“
Und ich trat ein und an die Bar, die sich durch eine Spielhalle zog. Münzautomaten, der Fernseher lief, Schweiß und das Bier aus den Hähnen. An den Holztischen, zwischen den Tischen und Tresen dunkle Männer und Frauen, die leuchteten, die Farben der Kleider.
Hinter dem Tresen, vor gläsernen Kühlschranktüren die Wirtin war blond. Ich bestellte ein Bier und mußte zahlen, sofort. „Ich habe ein Zimmer bestellt, für eine Nacht.“ Ein bärtiger Weißer, leicht angegraut, kontrollierte die Papiere meines Reisebüros.
Der Hoteldiener erschien, ein altersloser Mann, die grauen Hosen waren um die Mitte zu weit, und er hinkte mit meinen Koffern – ich folgte ihm, das Bierglas in der Hand – durch das Lokal – die Gäste machten uns Platz – die Hintertreppe hinauf, vorbei an Bauschutt, ein Parkplatz mit einer riesigen Satellitenschüssel, in den ersten Stock, ein langer, lichtloser Gang.
Durch die offenen Türen zur Damen- und Herrentoilette fiel Licht herein, durch die offene Tür zur Dusche. Und er schloß die Tür auf zu meinem Verschlag. Nackte Holzwände, zwei grobgezimmerte Pritschen, dazwischen ein schmaler Gang, ein Brett diente als Ablage, und der Pfosten neben der Tür?
Auf den grauen Handtüchern lag ein kleines Stück weiße Seife. Keine Fenster, von der Decke hing eine nackte Glühbirne, und über der Tür das Surren der Lüftung.
„Ich gebe Ihnen das Zimmer nebenan.“ Das gleiche Zimmer, aber das Schloß war sicher. Ich sperrte ihn in meinem Zimmer ein. Ich sperrte mich mit ihm ein. Das Schloß funktionierte, und ich war allein.
Ich leerte mein Bier im Stehen und trat hinaus auf den Gang und schloß hinter mir ab – mein Gepäck, ich ließ das Licht brennen, die Lüftung blieb an – und stieg die Treppe hinunter und über den Schutt und ging über den Parkplatz hinaus auf die Straße und über die Kreuzung die Straße hinunter zum Strand.

Nicht mehr als vier Kilometer im Quadrat. Wir trafen uns am Strand und gruben ein Loch in den Sand, zwei Meter mal einen Meter und einen halben Meter tief. Den Boden legten wir mit Steinen, zehn bis zwanzig Zentimeter im Durchmesser, aus, darauf dünne Zweige und auf die Zweige Äste, einen Meter hoch. Auf den Stoß wieder Steine. Ich zündete das Feuer an, und wir warteten, bis es heruntergebrannt war. Die glühenden Reste verteilten wir mit langen Stangen, die Asche zwischen die Steine, die wir mit Palmzweigen bedeckten. In der Mitte ließen wir eine Stelle frei, auf die wir eine Schildkröte legten, auf den Rücken, und rundherum Schlangen, die wir zerteilt und die Teile in Palmblätter eingeschlagen hatten, Fische und Vögel, und bedeckten sie mit Bananenblättern, einen halben Meter hoch, und die Blätter mit Säcken, die Säcke mit Sand.

Harry sitzt in seinem Küchenstuhl, zwischen einem Außenbordmotor und einem Auslegerkanu mit zerbrochener Takelage, Kühlschränken, Zeremonienmasken für Tanzfeste und Waschmaschinen. „Sage mir nicht, wie du heißt. Ich sage dir, wer du bist.“ Und während er spricht, ist sein linkes Auge geschlossen.
„Du bist kein Vogel. Du warst kein lautes Kind, in dem man den Vogel erkennt auf der Sandbank, am Kreischen. Dein Totem ist das Krokodil.“ Und Harry erzählt von Mer, seiner Insel im Osten, der Wälder beraubt, die Frauen verschleppt, und die Männer zum Perlentauchen gezwungen.
„Wenn die Schiffe auftauchten, begruben die Männer die Frauen und Mädchen bis zur Nase im Sand.“ Das hat ihm sein Großvater erzählt, und sein Vater vom Generalstreik 1936 und von den Haien. „Wir durften keine Taucheranzüge tragen wie die Japaner, und keinen Helm. Wir vertrauten nur unseren Frauen die life-lines an.“
Harrys Frau ist vor acht Tagen gestorben, und als sie starb, flatterte sie mit den Armen. „Sie schlug mit den Armen wie eine Schildkröte mit den Armen auf und ab. Sie lag auf dem Bett wie eine Schildkröte auf dem Rücken am Strand. Da wußte ich, dass sie sterben würde. Sie wurde zur Schildkröte und kehrte ins Meer zurück.
Der Garten ist meine Heimat. Als ich jünger war, kletterten meine Frau und ich jeden Tag den Hügel hinauf. Wir blieben dort, bis es dunkel wurde, und arbeiteten in unserem Garten.“ Es ist so dunkel geworden, dass ich Harry nicht mehr sehen kann. „Hinter den Gärten wurde ein langer Zaun angelegt, als Windfang in der stürmischen Jahreszeit.
Zur Tamar-Zeit legten wir Speiseopfer den Zaun entlang auf den Boden und zogen uns festlich an für den Tanz. Wir brachten Federn an unseren Schultern an, wie wir es früher machten, wenn wir uns für den Krieg rüsteten, und wir riefen: ‚Wir können fliegen, wir sind stark!‘
Wir säen unser Getreide bei Ebbe. Niemals bei Flut. Bei Ebbe kann man die Felsen über der Wasserlinie sehen. Wir glauben, die Felsen sind wie die Früchte. Mit der steigenden Flut werden mächtige Kräfte, die Kräfte des Wachstums, zurück an Land gedrückt. Wir ernten unser Getreide, wenn das Wasser zurückweicht.
Ich besitze nichts als die Sterne. Nicht wie man sie am Himmel sieht, sondern wie sie zur Erde gekommen sind. Die Geschichte der Sterne, die gehört mir. Der Himmel ist voll von Geschichten. Wir müssen nur lernen, sie einander zu erzählen. Das ist alles. Damit machen wir jeden zu einem Teil der Geschichte.“
Tagai, ich bin eingeschlafen. Zum Träumen blieb keine Zeit. Zahlreiche Spuren an der Vorderkante des Felsen lagen in fast horizontaler Linie. Wir gaben uns ganz der Arbeit hin. Wir haben das Ausmaß des Schreckens vergessen.
Die linke Tragfläche und der Vorderteil des Rumpfes hatten den Felsen zu genau derselben Zeit berührt. Folglich mußte die Maschine fast horizontal geflogen sein. Und wir zerlegten das Wrack in seine Teile, die wir sorgfältig prüften, die Trümmer, und fotografierten, jedes einzelne Teil, bevor wir die Maschine zusammensetzten.
Auch wenn der Fall abgeschlossen war, die Aufklärung war längst nicht vollständig. Was wirklich geschehen war: unser Absturz. Die Ursache blieb wahrscheinlich: der Himmel. Und wir stiegen auf.

II

Die Maschine stieg auf, und wir lagen in der Luft, nichts als Himmel. Schläge. Die Zeiger der beiden Geschwindigkeitsmesser sanken auf Null. Ich drückte den Steuerknüppel nach vorn.
Sturzflug. Ein Schlag. Unkontrollierbarer Sturzflug. Wir rasten dem Boden entgegen. Die Steuerung ließ sich nicht bewegen. Und wenn doch, ich hatte die Wahl.
Zwischen sicherem Absturz und wahrscheinlichem Auseinanderbrechen. Die Triebwerke auf Gegenschub.
Die Maschine zerbrach, und wir hingen in der Luft. Ich sah das Wasser zurückweichen und eine Insel aufsteigen, einen Baum, und hörte die Kameraden auf dem Wasser aufschlagen, während ich fiel, in die Krone des Feigenbaums, seine Früchte platzten auf, und ich fiel in Bewußtlosigkeit.
Es war tiefe Nacht, als ich erwachte, der Himmel Metall, das im Mondlicht glänzte. Ich stieg durch die Äste und sammelte die Trümmer ein, nachdem ich sie fotografiert hatte, meine Kameraden.
Ich prüfte jedes einzelne Teil, bevor ich die Maschine zusammensetzte, die Heckflosse hinter das Cockpit, die Tragflächen als Rotorblätter.
Ich stieg auf, wo ich abgestürzt war, in den Himmel. Ohne zurückzuschauen, hinunter. Schau nie auf deinen Bodenschatten, wenn du fliegst. Ich flog.

LUCAS CEJPEK, geb. 1956 in Wien, Studium der Germanistik in Graz, Dissertation über Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ als Kulturtheorie, Lehrbeauftragter, Rundfunkjournalist, lebt seit 1990 als freier Schriftsteller, Hörspiel- und Theaterregisseur in Wien.
„Diebsgut“, Essays, 1988; „Nach Leningrad. Ein Stück“, 1989; „Ludwig“, Roman, 1989; „Und Sie. Jelinek in ‚Lust'“, 1991; „Vera Vera“, Roman, 1992; Paul Wühr: „Wenn man mich so reden hört. Ein Selbstgespräch“, aufgezeichnet v. L.C., 1993; „Ihr Wunsch. Gesellschaftsroman“, 1996.

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