Reinhold Stumpf

Wiener G’schichten
Déjà vu

Das Taxi hupte schon zum zweiten Mal. Ausgerechnet heute war mein Wagen in der Werkstatt und ich wie immer zu spät. Verzweifelt bearbeitete ich ein frisches Hemd am Bügeltisch, gleichzeitig waren meine Gedanken im Kleiderschrank und selektierten eine passende Krawatte. Je öfter ich über den feinen Stoff bügelte, umso zügelloser schienen sich die Falten darauf zu vermehren.

Die Signation zur Nachrichtensendung tuschte aus dem Radiogerät. Punkt Acht. Ich hatte nur noch dreißig Minuten. Das würde ich nie mehr schaffen, war ich mir sicher und griff postwendend in den Wäschekorb, holte ein T-Shirt heraus und streifte einfach meine gute alte Jacke über. Die Jeans behielt ich an. Den Kaffee ließ ich stehen, eine Banane nahm ich mit.

Wozu so schick gekleidet sein, belächelte ich mich selbst, schließlich ging ich nicht zu einem Rendezvous sondern zum Scheidungsrichter.

Sonja hatte sich ja immer mit leidenschaftlicher Akribie um mein Erscheinungsbild gekümmert. Sie hätte mich in diesem Aufzug gerade auf den Fußballplatz gehen lassen oder in eines meiner Stammlokale. Vielleicht wollte ich sie heute regelrecht verärgern, wahrscheinlich aber war ich einfach zu bequem oder eben nur ungeschickt. Sonja würde jedenfalls kaum über meine saloppe Kleidung überrascht sein; ich sah schon jetzt ihr wissendes Lächeln, wenn sie mich erblickte. Sie würde dabei den Kopf schütteln und sagen wollen: Typisch.

So war sie. Schulmeisterisch. Genau. Perfekt. Nicht wie ich. Ein Luftikus. Ein Träumer. Ein Chaot. Wir passten wohl wirklich nicht zu einander.

Ich lebte nun seit zwei Monaten von meiner Frau getrennt, und in einer knappen halben Stunde sollte eine hundertmonatige Ehe geschieden werden. Wir hatten schon im Vorfeld alles geklärt und erwarteten keine nennenswerten Diskrepanzen. Einzig die Formalitäten fehlten noch. Endgültig. Aus. Maus. Meine Maus.

Ich gebe zu, bei der Wahl des Kosenamens für Sonja nicht gerade den Vogel abgeschossen zu haben, und diese Einfalt entsprach in keiner Weise meiner ansonsten fantasiereichen Eigenart, oft aber sind es gerade die ungekünstelten und banalen Worte, die einer Beschreibung am treffendsten dienen. Außerdem hatte der Umstand unseres ersten Aufeinandertreffens dazu beigetragen, warum sie stets meine Maus war. Der Gedanke an diese Geschichte war in diesem Moment zwar nicht angebracht, trotzdem hatte er unvermittelt und auf eine geheimnisvolle Art und Weise Besitz von mir ergriffen. Je intensiver ich mich daran erinnerte umso widerstandsloser begann ich ihn weiter zu spinnen. Bilder tauchten auf, Geräusche. Düfte. Stimmen. Tief aus meinem Innersten wuchs ein bizarrer Wunsch. Ich wagte nicht daran zu denken.

Endlich verließ ich meine Wohnung, die Tür fiel sanfter ins Schloss als sonst, und ich huschte das Stiegenhaus hinunter. Unterwegs schälte ich schlampig meine Banane und biss einige Male hastig zu, als ich vom Hauseingang her Schreie vernahm. Gekreische. Eine hysterische Frauenstimme vibrierte an der Metalltür zum Müllraum. Alsbald flog die schwere Tür wie von Titanen gestoßen auf, und die Klinke knallte mit einer Wucht gegen die Mauer, dass an dieser Stelle nicht nur der Putz sondern sogar ein Stück vom Ziegel ausbrach. Wie vom Blitz getroffen erstarrte ich. Im selben Augenblick haftete ein Frauenkörper an mir, warm, zart und gut einen Kopf kleiner als ich. Die Unbekannte atmete schnell, und ihr rasendes Herz trommelte an meinen Torso wie ein ekstatischer Rave-Beat. Dabei drückte sie mich immer fester an sich. Sie zitterte am ganzen Leib. Meine Hände hielten das Häufchen Elend vorsichtig am Rücken und begannen bald beruhigend nach oben und nach unten und im Kreis zu streichen. Als sich die Unbekannte langsam gefasst hatte, hob sie ihr Haupt und blickte mich an. Sie ließ nicht von mir los sondern schlug unschuldig zwei- dreimal mit den Augenlidern auf und ab. Ihre Mundwinkel spitzten sich zu einem feinen Lächeln, und in ihren Augen funkelte ein sonderbares Licht, das mir vertraut war. Der glänzende Schimmer zog mich hinab in eine tiefe Sehnsucht. Für einen Sekundenbruchteil war ich in die Ewigkeit eingetaucht.

Die Maus! Jetzt fügten sich die Einstellungen zu einer Szene zusammen, die mir wohlbekannt war. Aus dem Müllraum flitzte ein Mäuschen, vorbei an uns und entwischte durch die geöffnete Kellertür. Die Frau in meinen Armen aber nahm überhaupt keine Notiz mehr von dem grauen Nagetier. Sie schluckte einmal verlegen und öffnete vorsichtig den Mund, als wollte sie etwas sagen. Wohl ahnte ich, was jetzt kommen würde, und ich erwartete sogar diese Worte, eine kurze Frage, die ich vor fast zehn Jahren zum ersten Mal in einer frappierend ähnlichen Situation erlebt hatte. Auch damals passierte es genau an dieser Stelle, am selben Ort, vor dem Müllraum.

Als ich zum ersten Mal in meinem Leben Sonja gesehen hatte.

„Hab‘ ich Sie erschreckt?“

Ihre Stimme war der akustische Inbegriff von Weiblichkeit. Ich kannte sie von Radioansagen, hörte sie aus dem Fernseher und in Kinos, ja sogar aus den Flughafenlautsprechern tönte dieser Stereotyp weiblicher Phonetik, sie sprach durch den Telefonhörer, und zuweilen hauchte sie auch aus meinem Computer. Trotzdem war sie mir völlig unbekannt.

Ich nahm meine Hände von der jungen Dame und stammelte: „Entschuldigen Sie vielmals.“ Na klar war ich erschrocken. Aber nicht vor einer kleinen, harmlosen Maus.

Sie lachte laut, und beinahe lachte sie mich aus. Dann ließ auch sie von ihrer Umklammerung los.

„Ich hätte sie fast umgerannt! Und das wegen einer dämlichen Maus “ einem winzigen Mäuschen! Ich fasse es nicht!“

Während sie redete schlug sie erneut mit den Augenlidern auf und ab. Ihre losen Hände machten anmutige Bewegungen in der Luft von ihrem Oberkörper hinauf zum Kopf und strichen dann durch die kurzen Wellen ihres kaffeebraunen Haares. Sie war wunderschön.

„Ich bitte Sie.“ stammelte ich. „Es ist doch nichts passiert.“

Ich merkte förmlich, wie mir heißes Blut ins Gesicht stieg. Gott, stell ich mich blöd an, schoss es mir durch den hochroten Kopf.

„Sind Sie neu eingezogen?“ fuhr ich im selben Atemzug fort.

Das klang schon besser! Sag schon ja, sag: Ja!

„Noch nicht wirklich. Ich bin gerade dabei. Top 18. Aber der erste Eindruck “ ich weiß nicht.“

„Ich kann Ihnen versichern, das war die erste Maus, die ich in diesem Haus gesehen habe! Top 18? Das ist genau über mir!“

Also gut. Ich konnte nichts für meine einfallslose Kommunikation. Nicht jetzt. Nicht in diesem Augenblick der tausend Explosionen, in diesem magischen Moment, der mich langsam vom Boden abheben ließ. In meinem Kopf knisterten sprühende Wunderkerzen, deren Funkenschlag mein Herz entzündete und dort Detonationen auslöste, eine heftiger als die andere, so dass mein ganzer Körper drohte in Flammen aufzugehen. So stellte ich mir einen Raketenstart vor – ich in der Abschussrampe. Ich spürte förmlich, wie sich zwischen den Flurkacheln und meinen Schuhen ein Höhenunterschied von mindestens einem Zentimeter aufbaute. Was sage ich da “ es mussten mittlerweile Meilen sein. Welten.

Ich schwebte.

Verdammt.

Ich hatte mich verliebt.

Sie lachte zu mir hinauf und hielt dabei die Augen geschlossen. Ich konnte es nicht glauben, aber ihre Lider waren von kleinen Rosenblüten bedeckt. Rote.

Sonja. Es war wie damals. In jedem einzelnen Detail.

Sie sagte, sie müsse weiter, habe es eilig, aber wir würden uns bestimmt wieder sehen. Schließlich seien wir ja quasi Nachbarn. Ich sagte, ich habe es auch eilig, ein wichtiger Termin, aber wahrscheinlich sei ich ohnehin schon zu spät. Draußen auf der Straße startete ein Wagen. Das auch noch. Ich erinnerte mich plötzlich an das dritte Hupen des Taxis. Okay. Länger hätte ich wohl auch nicht gewartet.

„Das kann wirklich nur mir passieren.“ jammerte ich und atmete tief durch.

„Tut mir leid.“

Ja, ja. Geh‘ nur. Ich nickte ihr zu und zwang mich zu einer freundlichen Mimik.

„Wir sehen uns.“ winkte sie ab und verschwand im Stiegenhaus. Zurück blieb der Duft von dezentem Männerparfum. Ich wusste, dass immer mehr Frauen heutzutage solche Odeurs wählten und zerbrach mir meinen ohnehin dösenden Kopf nicht weiter darüber. Im übrigen benutzte ich die Marke selbst gelegentlich.

Ich stand vor der geschlossenen Tür zum Müllraum, und in meiner rechten Hand hielt ich noch den Rest meiner Banane. Bevor ich nun hinaus gehen und mir ein neues Taxi rufen wollte, hatte ich vor, den Obstabfall zu entsorgen. Außerdem hing diese geheimnisvolle Stimme nach wie vor in meinen Ohren. Ich öffnete also und griff nach dem Lichtschalter. Klick-klack. Es blieb dunkel. Kein Wunder. Den Müllcontainer fand ich trotzdem problemlos, schob den schweren Deckel zurück, und genau in diesem Augenblick gingen sämtliche Lautsprecher meines Lebens an, und die zu Schallwellen gewordene Weiblichkeit vibrierte an meinem Trommelfell.

„Das gehört in den Biomüll.“

Nein. Das war nicht denkbar. Das durfte nicht wahr sein. War sie tatsächlich gekommen? Hatte ich ihre Rückkehr tatsächlich gespürt? Liebte sich mich wirklich noch?

In Erahnung des Unmöglichen drehte ich mich langsam um, hin zum Licht, das vom Flur durch die Müllraumtür fiel und zuckte zusammen. Ein rosiges Bukett kroch meine Nasenhöhlen empor und erfüllte bald den ganzen Raum.

„Hab‘ ich dich erschreckt?“

Und wie sie mich erschreckt hatte! Sonja stand vor mir, und ich wusste nicht, wie mir geschah. Dann begann ich zu lachen. Herzhaft. Verrückt. Sie lachte mit.

„Du? Hier?“ Mir standen die Tränen in den Augen. „Ich meine, dass ich noch hier bin, ist ja nicht weiter verwunderlich.“ Ich beruhigte mich. „Aber was machst du da?“

„Ich habe noch immer eine Wohnung hier.“

Stimmt. Sie war nie aus Top 18 ausgezogen – zumindest nicht offiziell.

„Kannst du dich erinnern? Diese Situation?“

„Mh.“

Als wäre keine Sekunde seit unserem ersten Aufeinandertreffen vor knapp zehn Jahren vergangen, hingen wir aneinander wie Kletten und bedeckten unsere Gesichter mit hastigen Küssen, bevor wir unseren Lippen freien Lauf ließen. Inmitten eines Wirbelsturmes der Leidenschaft unterbrach Sonja urplötzlich.

„Du wolltest hoffentlich nicht in diesem Outfit zur Scheidung kommen.“

So war sie eben. Und dafür liebte ich sie.

„Scheidung? Da hab‘ ich wohl wieder was versäumt!“ wollte ich erheitert kontern und wartete auf ein Lachen, stattdessen stieß Sonja einen fürchterlich hysterischen Schrei aus. Ach ja! Eine Maus.

Motherfucker

Der Gymnasiast Emil brütete über den schier unlösbaren Hausaufgaben, die sein Mathe-Professor heute Vormittag in einem regelrechten Anfall von algebraischer Epilepsie an die Tafel gekritzelt hatte. Wie für die meisten seiner Kommilitonen auch waren diese Aufgaben an unnahbarer Abstraktion kaum zu überbieten. Nein, mit derlei Weisheit konnte und wollte sich Emil nicht auseinandersetzen. Da griff er schon lieber in sein geheimes Lädchen unter dem Schreibtisch und holte eine Lektüre hervor, die wesentlich gegenständlicher gestaltet und vor allem aufregender für einen heranwachsenden Jüngling war, der gerade begann, mit der Anatomie des anderen Geschlechtes Bekanntschaft zu machen.

Das bunte Heftchen war zwar schon durch die halbe Klasse gewandert und über zwei Jahre alt, und Emil wusste eigentlich gar nicht, wem es denn überhaupt gehörte, aber der Körper der Frau hatte sich während dieser Zeit wohl nicht verändert, und mehr verlangte der Jüngling ja nicht.

Die Haar- und Hautfarben der Mädchen reichten über die gesamte Palette des weltweit verfügbaren Angebots und unter Berücksichtigung der kosmetischen Chirurgie sogar darüber hinaus. Emil hatte da fürwahr einen Leckerbissen an glattpolierter Pinup-Erotik vor sich. Je weiter er blätterte, umso stärker machten sich die doch schon sehr ausgeprägten Attribute seines langsamen aber unweigerlichen Heranwachsens bemerkbar. Emsig stöberte er unter seiner Jogginghose, und als er sein zur Zeit liebstes Spielzeug im richtigen Griff hatte, machte er sich unhaltbar über die zahl- und variantenreichen Fotos von blanken Mädchenbrüsten und vielem mehr her.

Das erst vor kurzem neu entdeckte Gefühl der sexuellen Erregung, welches bislang in seinem kindlichen Körper geschlummert hatte, bereitete dem Jungen eine wilde und zügellose Freude, um nicht zu sagen eine wahrhafte Gier nach diesen geheimnisvollen Tempeln der Lüste, welche er vorerst nur in all ihrer Blöße auf Hochglanzpapier vor sich hatte.

Immer tiefer drang er in die imaginäre Welt der Playmates und Topmodels ein, und bald schon war er ein Teil derer geworden. Er sah und fühlte sich zwischen den nackten Schönheiten, umgeben von einem einzigen Vulkan der Leidenschaft mit seinen zahllosen sprudelnd heißen Kratern. Da wälzte er sich in völliger Entrückung in seiner Welt, und es war seine Welt, denn alles in ihr gehörte nur ihm.

„Ääähmieel!“

Sie allerdings nicht.

Sie gehörte nicht dazu, und doch stand sie, wie aus dem Boden gestampft plötzlich mitten in Emils Zimmer.

Der Junge war mit einem Schlag aus seinen Phantasien gerissen worden, und da kniete er nun mit verdutzter Miene und heruntergelassener Jogginghose vor seinem Schreibtisch. Neben ihm stand seine Mutter, die, weiß Gott warum, den Kanarienkäfig mitgebracht, diesen allerdings vor lauter Entsetzen wie einen Müllsack fallen gelassen hatte.

„Emil!“

Die dicke Alte blickte auf das Heft, das nun wirklich nichts anderes mehr war als ein Heft, keine Spur von Leben mehr zeigte, nur die Mädchen lachten ihr gekauft lüstern entgegen. Sie nahm es und schleuderte es hysterisch krächzend, als hätte sie ein gebrauchtes Kondom angefasst, durch das Zimmer. Frau Mutter war entsetzt, da bestand kein Zweifel. Die Schamesröte stand ihr im Gesicht, als hätte sie zu lange in ihren Kochtopf geguckt, und obwohl sie im ersten Augenblick nur schlucken und „Emil!“, „Emil!“ stammeln konnte, raffte sie sich nun doch zu vollständigen Sätzen auf, die allerdings wie ein Gewitter auf den inzwischen in die raue Wirklichkeit zurück geworfenen Jungen niedergingen.

„WAS BIST DU FÜR EIN SCHWEIN! NOCH NICHT EINMAL VIERZEHN JAHRE ALT UND SOLCHE SCHWEINEREIEN IM KOPF! ICH HALTE DAS ALLES NICHT MEHR AUS! DIE DÄMLICHEN KANARIENVÖGEL VERSTREUEN IHRE FEDERN IN DER KÜCHE. NIMM DIE VIECHER UND GEH MIT IHNEN ZUR HÖLLE!“

Sie verschwand wild gestikulierend aus dem Zimmer und rief immer wieder : „Ich halte das alles nicht mehr aus!“

Emil war verzweifelt. Er blickte zu den beiden Kanarienvögel, Männchen und Weibchen, die still und brav, als fühlten sie sich selbst vom Geplärre der gestörten Frau betroffen, in ihrem umgekippten Käfig hockten, und beneidete sie. Selbst diese Knirpse konnten unbeschwert den schönen Dingen des Lebens frönen, nur jetzt, nach dieser recht unsanften Landung drehten sie ihre Köpfchen verstört nach oben und unten, nach links und rechts und konnten sich wohl an ihrem neuen Platz noch nicht so ganz zurechtfinden.

Wie haben es diese Wichte schon getrieben!

Emil konnte sich gut vorstellen, dass die beiden Kanarien eine Menge Federn ließen, wenn sie so im Liebesrausch durch den Käfig jagten.

Er amüsierte sich köstlichst dabei, wenn er daran dachte, wie seine frigide Mutter aus der Haut gefahren sein muss, als die Vögel, lüstern zwitschernd und krächzend, ihre Federn in der Küche und im Speiseplan von morgen verstreut hatten.

Also rückte er liebevoll den Käfig zurecht, putzte den ausgestreuten Sand weg und hockte sich neben das kleine Liebespaar. Er pfiff animierend durch die Gitterstäbe, worauf das Männchen sogleich aufmerksam zu ihm blickte und erst zaghaft, dann aber voller Enthusiasmus seine Melodien zu erwidern begann. Schon hüpften die beiden Vögel wieder vergnügt herum, und es schien, als wäre die Welt wieder in Ordnung.

Der frühreife Bengel setzte sich also brav an seinen Schreibtisch und suchte in dem Papierhaufen darauf nach seinem Mathematikbuch. Da spürte er eine Unebenheit unter seinen Schuhen. Er blickte nach unten und erkannte das skandalöse Bilderbuch, dessen obszöne Darstellungen von nackten Frauen in eindeutigen Posen kurz zuvor seine jungen und ungezügelten Triebe provoziert und seine Mutter an den Rand des Wahnsinns gehetzt hatten. Er hob das Heftchen auf, hielt es eine Weile streng und regungslos vor sein Gesicht und schrie dann aus einer urplötzlichen Gewalt:

„LECKT MICH DOCH ALLE AM ARSCH!“

Das bunte Magazin flog abermals auf den Teppichboden.

Emil aber schnappte nach seiner Jacke und dem Vogelkäfig, riss die Zimmertür auf und rannte, vorbei an seinem alten Mütterchen, das fassungslos und mit offenem Mund auf dem Flur stand, hinaus, die Treppen hinunter und auf die Straße.

Es war Samstag Abend vor dem Muttertag und schon dunkel. Die große Stadt lockte mit ihren bunten Lichtern und den fröhlichen Klängen aus den sich nach und nach zu füllen beginnenden Kneipen und Lokalitäten.

Emil folgte wie hypnotisiert den rufenden Sirenen, und da schoss ihm ein abenteuerlicher Gedanke durch den Kopf: Er wollte nie mehr heimkommen. Zwitsch-zwitsch. Die Kanaris gaben ihm recht.

Primetime

„Oskar!“
Sie schrie und schrie und schrie und schrie …
„Oooskaaaaar!“

Das Leben im Gemeindebau macht selbst ein frommes Lamm zur Sau.

Es war einmal Samstag Abend und in der Fünf-Quadratmeter-Küche der Familie Rettich ging gerade ein Multi-Media-Spektakel über die Bühne. Auf dem Küchentisch stand, in einem Labyrinth aus Toaster, Kaffeemaschine, schmutzigem Geschirr, frischen Lebensmitteln und Getränkeflaschen, ein Portable-Fernseher und frohlockte zur grenzdebilen Senioren-Talkshow, das Radiogerät in der Kredenz spielte die 49. Interpretation des Vogeltanzes, dazu sorgte eine Geräuschkulisse aus Allzweck-Küchengerät, Dampfbügeleisen, Kanariengekrächze, Katzenjammer und Hundegejaule für eine harmonische akustische Untermalung. Der Schlager des Abends aber war eine Horror-Liveshow auf der Arbeitsfläche über dem Kühlschrank. Gierig kneteten die Hände der Hausfrau in einem organischen Konglomerat aus den sterblichen Überresten einer ehemals glücklichen Landhenne, die in der Legebatterie neben der Bundesstraße zwischen Oberkirchbrunn und Dreihütten wohl trotzdem nie das Licht der Sonne gesehen hat. Mit mäßigem Geschick führte die Mittvierzigerin eine halbmetrige Edelstahlklinge zwischen blutigen Fleischklumpen und den eigenen Fingern ihrer linken Hand und fuhrwerkte in der Leiche mit einer derartigen Hingabe, dass ihr der Speichel vom Mund tropfte und das Dekor auf den Fliesen rings um sie mit naturechten Rottönen angereichert wurde. Hund und Katze, beide bekanntlich erst seit einigen Jahrtausenden domestizierte Raubtiere, konnten ihren blutrünstigen Instinkt nicht mehr unterdrücken, als sich der tiefrote, nach Eisen und Salz schmeckende See auf dem Hackbrett einen Weg über die Kühlschranktür bahnte und sich am Fußboden erneut ergoss. Die beiden Bestien drängten sich bald in ernsthaft konkurrierender, bald in friedlich schleckender Pose unter dem Rock der Frau, sodass diese genug Probleme bekam, den in Vorbereitung befindlichen Sonntagsbraten in ihrer Gewalt zu behalten. Sie stieß und trat die lästigen Parasiten in schier unendlich wollenden Wiederholungen zur Seite, worauf diese, nur noch gieriger lechzend, begannen, ihren offensichtlichen Gegner in völlig unkontrolliertem Blutrausch zu attackieren. Da aber holte das tapfere Frauchen zweimal hintereinander kräftig aus und versetzte den schlimmen Kuscheltieren einen derartigen Tritt, dass diese himmelschreiend jaulend und kreischend das Weite suchten. Gegen Ende des infernalen Treibens zückte Frau Rettich dann plötzlich die linke Hand und suchte hektisch nach einem weißen Fleck in ihrer Arbeitsschürze, worin sie die in ihrer augenscheinlichen Hektik wund geschnittenen Finger abrieb. Mit einer demonstrativen Routine öffnete sie die Schublade neben sich, nahm Verbandsmaterial heraus und suchte nach dem noch freien Platz auf der lädierten Gliedmaße, worauf sie ein weiteres Pflaster kleben konnte.

„Oskar! Wo zum Teufel steckst du wieder? Komm endlich her und sieh, was die beiden Biester angerichtet haben.“

Frau Rettich streckte ihren Kopf durch den Vorhang, der die Küche vom Wohnzimmer trennte und sah nach ihrem Mann. Der aber lag, schnaubend wie ein altes Postross, tief schlummernd auf der Couch, die eine Hand regungslos in der Popcorn-Tüte auf dem Tisch, die andere unter dem Gummizug seiner Pyjamahose. Sie schüttelte in stummer Fassungslosigkeit den Kopf. Da konnte er sie ja gar nicht hören, so wie er da selig schnarchte, dachte sie. Kurz entschlossen aber schaltete die gute Frau dann den großen Fernseher im Wohnzimmer, der, egal ob Oskar wachte oder schlief, in ewigem Kontakt zu den Ätherwellen stand, ab und rüttelte das faule Murmeltier so lange, bis es die ersten zaghaften Reaktionen zeigte, sich also unfreiwillig hin und her zu wälzen begann und letztendlich doch die sehr, sehr schwer gewesenen Augenlider hochkrempelte. „Oskar! Pack deine Viecher zusammen und dreh mit ihnen ein paar Runden!“

Frau Rettich rüttelte ihren Mann und schrie ihn an, als hätte er einen ihrer garantiert echten „Made-in-Taiwan-Brillianten“ verschluckt. Er aber schaute behäbig und verständnislos zu seinem Weibe auf, worauf diese, noch immer schüttelnd und schreiend wie am Spieß, einem plötzlichen Heulkrampf erlag.

„Ich halte das alles nicht mehr aus!“ schluchzte sie und malträtierte den armen Kerl, bis sich dieser dann doch endlich erhob, laut gähnend streckte, noch immer stark schlaftrunken nach seinen Pantoffeln suchte und in den Vorraum verschwand.

„Und komm mir mit den Biestern ja nicht vor Mitternacht nach Hause!“

Oskar aber hörte seine Frau nicht mehr. Er war bereits mit dem Kater im Arm und dem Hund an der Leine das Stiegenhaus hinunter und hinaus auf die Straße geflüchtet.

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