Ich bin eine Reise
Die alte ‚Remington‘ ist ihrer Bestimmung, Reiseschreibmaschine zu sein, wahrlich nachgekommen. Ursprünglich hatte ich sie mir nur wegen der in Australien auf den Typenrädern fehlenden Umlaute und scharfen „ß“ von einem Freund geliehen, mit dem ich die Wohnung in Wien teile. Nun hat sie aber doch in über zwei Jahren die Welt bereist und klappert zum zweiten Mal auf einer kleinen Insel im Golf von Siam. Richtig eingesetzt habe ich sie eigentlich gar nicht, denn der Komfort einer elektronischen ‚brother‘ hat die Umstellung auf „ae, oe, ue“ und „sz“ leicht gemacht. Selbst, dass das „Z“ mit dem „Y“ vertauscht auf der englischen Tastatur liegt, erforderte nur kurze Eingewöhnung.
Sydney liegt neun Flugstunden hinter mir. Der Jet-Lag ist erträglich und weil ich schon diese Extra-Kilos mitschleppe, sollen sie nun zu etwas gut sein. Wenn auch nur, um diese 100 Tage Einsamkeit auf einem 14-tägigen Stop-Over zu überwinden. Und wenn auch nur, um meine Leidenschaft nicht kalt werden zu lassen: das Schreiben.
Nicht, dass ich mit diesem Text die Absicht verbinden würde, Literatur zu produzieren. Nein. Das Schreiben ist für mich vielmehr eine, nein, die beste Kommunikationsform. Wenngleich sich diese schriftliche Verständigung mit Menschen im normalen Leben auch nur auf eine tägliche Zahl von Briefen erstreckt, die Air Mail from Down Under in die Welt gehen, so ist sie mir doch unverzichtbar. Wichtiger als Gespräche, Telephonate oder irgendwelche elektronischen Medien. Worte in Zeilen, Absätzen, Abschnitten aneinanderzufügen, aufzuschreiben, festzuhalten, zu überdenken, zu korrigieren und wieder zu lesen kann für mich einfach durch nichts ersetzt werden.
Genauigkeit im Schreiben, mit der Sprache (mit den Sprachen) erfordert aber ebensolche Aufmerksamkeit des Lesenden (wer auch immer das gerade sein mag). Und da fangen die Probleme auch an. Viele haben schon das Zuhören verlernt; das genaue Lesen ist offenbar noch seltener geworden. Ich weiß, damit stelle ich meinen Job in Frage: das Büchermachen. Aber diese Frage stelle ich mir ohnedies immer wieder, in nahezu existentialistischer Manier: Wozu Bücher machen? Wozu diese undankbare selbstauferlegte Aufgabe? Leben könnte man einfacher. („Life was never meant to be a struggle“) Aber wäre es das auch wirklich?
Heute bin ich das fünfte oder sechste Mal in Thailand einem Jet entstiegen, auf eine Insel hinausgefahren. Doch kaum habe ich mich in einer kleinen Hütte unter Palmen eingerichtet, weiß ich auch schon, dass es mich wieder nach Sydney, Wien oder eine andere Großstadt zieht, an den Macintosh (an dem ich diesen Text jetzt, drei Monate später, gerade erfasse), an die Produktion (die jetzt zum Teil schon wieder hinter mir liegt), an die Arbeit im Verlag.
Kann man Arbeit denn noch Arbeit nennen, wenn sie so großen Spaß macht? Wenn sie trotz aller Widrigkeiten zwar Lust bereitet, aber nie Geld einbringt? Vielleicht ist das auch nicht ganz richtig. Vielleicht ist es nur egoistische Selbstverwirklichung, deren Preis mein Lebensstandard ist. Damit bin ich ‚gestraft‘, weil mir diese Arbeit nicht das Brot verdient. Meriten, ja. Aber Brot? Ich rede nicht einmal von der Butter.
Einen kleinen Verlag im Ein-Mann-Betrieb über zwei, drei Kontinente hinweg zu führen, ist unmöglich. Entweder, der Verlag wächst; oder ich muß mein Bein (meine Wurzel) in Europa aufgeben. Obwohl ich gestehe, dass mir gerade diese Art des Lebens über große Entfernungen hinweg sehr entgegenkommt, ja entspricht. Ich bin eine Reise, hat mir eine Freundin vom Rundfunk gesagt. Du bist eine Reise.
Ich halte inne, blicke hinaus aufs Meer. Nur nicht romantisch werden, sage ich mir schnell. Das interessiert heute keinen mehr. Dabei weiß ich noch gar nicht, ob ich diese Zeilen überhaupt für einen Lesenden denke und aufs Papier hämmere, wovon ich vorsichtshalber auch noch ausreichend viele Blätter eingepackt habe. Kann ich aber die Romantik abstreifen, auf der Veranda einer Bambushütte und dem Ozean in den Ohren und den exotischen Düften in der Nase und all der Sinnlichkeit? Kann diese Einsamkeit, die ich immer wieder nach hektischen Monaten in Metropolen auf mich wirken lasse kann sie überhaupt coole Bilder in mir evozieren? Ich bin mir gar nicht sicher und halte wieder inne.
Danach habe ich nichts mehr aufgeschrieben. Ich bin an den Strand vorgegangen, habe im Sand gesessen und aufs Meer hinausgestarrt, und über den Horizont hinausgedacht. Immer wieder: Ich bin eine Reise. Und vielleicht gäbe das Stoff her für das erste Buch, das ich selbst schreibe. Aber dafür habe ich diesen Text schon falsch begonnen. Wozu auch. (Es gibt zu viele Bücher.) Gedanken eines Menschen interessieren andere Menschen nur, wenn er bereits tot, oder zumindest zu Lebzeiten schon berühmt ist. Ich hingegen bin sehr lebendig. Und berühmt? Nein. Aber ich bin eine Reise. Und das schon seit zwei Jahrzehnten. Mit dreizehn wars nur Paris, dafür mit dreiunddreißig längst die Welt. Meine Welt.
Also doch ein Buch? Ein Buch in vierzehn Tagen. Ein Stop-Over. So tun, als ob ich tot umfallen könnte danach und es war alles da: Ein Leben, eine Reise. Hab ich was ausgelassen? Alles ausprobiert? (Bis aufs Reich-sein, sicherlich.) Alle Affären gehabt, auf allen Kontinenten geliebt, alle Farben dieser Erde gespürt. Alle Bücher gelesen, alle Filme gesehen; auch ein bißchen Wirklichkeit, aber ich falle ja nicht tot um, doch nicht mit Dreiunddreißig. Nicht mit meiner Bärengesundheit, auch wenn ich mein Kreuz ab und zu spüre. Im Moment jedoch nicht, hier auf der Insel. Und Malaria? Ach was.
Wenn es also ein Buch werden soll, wo beginnen, was erzählen? Was habe ich schon, was den Lesenden interessiert? Einen Sommer oben in Queensland, Wintertage in Moskau? Was zeichnet meinen Sommer, meinen Winter aus, dass er für den Lesenden, für Sie also, zum Erlebnis wird? Nichts. Nichts, aber auch schon gar nichts, weil es eben nur mein Sommer in Queensland, mein Winter in Moskau war. War es heiß? Hat es geschneit? Mon dieu, geschneit hat es in Kanada, letzten Winter (und ich hatte keine Winterbekleidung mit, aber das ist Ihnen sicherlich egal). Auch ein Stop-Over. Mein Leben ist eine Kette aus Stop-Over’s. Destination: der Tod. Pathetisch. So ein Blödsinn. Das wird in zwei Wochen kein Buch und nicht in zwei Jahren.
Was ist aber ein Buch? Was für ein Buch hätte es werden können? Eine Erzählung? Ich habe keinen Erzählrahmen, ja nicht einmal einen Erzähler. Ich schreibe nur: ‚Ich‘. Also bin ich kein Schriftsteller (mein Gott, wieviele Menschen verdienen sich aber ihr Geld mit dem Schreiben von Büchern, ohne Schriftsteller zu sein?). Eine Autobiographie? Ein Tagebuch? Nein. Ich habe zwar Reisetagebücher geführt, doch die sind viel zu privat und für Nicht-Reisende sicher langweilig. Oder will ich gar langweilen? Langweilen Sie sich bisher? Ich nehme eher an, Sie haben bis zu diesen Zeilen noch gar keine Ahnung, was das eigentlich soll. Trösten Sie sich. Ich auch nicht. Mit dem Kauf dieses Magazins/Buches etc. haben Sie zumindest die Druck- und Papierindustrie gefördert. Mein Verleger (wenn ich einen finden werde) und ich haben da nur Arbeit und Geld reingesteckt. Das zumindest können Sie mir glauben, das mache ich selbst schon seit Jahren.
Wollen Sie etwas über die Buchindustrie erfahren? Nein, ich weiß schon. Sie müssen ja auch nichts von Mikroprozessoren verstehen, wenn Sie ihren Computer bedienen. Sie haben doch sicher einen? Sehen Sie, jetzt beginne ich bereits, mit Ihnen zu plaudern. Dabei kenne ich Sie doch gar nicht.
Zurück zur Romantik. Zum Kitsch. Zum Meer. Schwimmen ist herrlich. Das Meer ist eigentlich daran schuld, dass ich reise. Wenn ich am Meer geboren wäre, würde ich wahrscheinlich immer noch am Strand sitzen und auf den Horizont hinausstarren, wie er sich krümmt und die Blautöne ineinanderfließen. Reisen war also im Anfang nur die Suche nach dem Meer. Endlich eine einfache Formel. Manche machen das im Urlaub, andere machen es sich zum Beruf (Meersucher, so wie Uhrmacher?) bei mir hat sich’s zur Sucht entwickelt. Ruhelosigkeit. In Orten, aber auch in Menschen. Liebhaber ohne festen Wohnsitz. (ein Zitat) Bin ich deshalb Zeit meines Lebens nie in einer wirklich langen Beziehung vor Anker gegangen? Was geht mich seine Beziehungskiste an, werden Sie jetzt aufschreien (oder auch nur leise seufzen) aber Halt. Das wäre ein Buch. Allerdings auch nur eines mehr unter Millionen von Büchern über Beziehungen. Sex and Crime, das verkauft sich. Zweiteres habe ich nicht im eigenen Repertoire, da müßte ich erfinden. Und darin bin ich nicht gut, glauben Sie mir das.
Und Sex? Mein Liebesleben war nie langweilig, aber das behalte ich lieber für mich. Für meine erotischen Träume, meine Phantasien. Bestenfalls füge ich da oder dort ein Anekdötchen ein. Punkt. Kein Liebesroman. Schon gar kein Porno. Bleibt wirklich nur die Reise. Als Bewegung in unserem globalen Dorf, in der Topographie, aber auch als Flüchten und Verstecken, Ankommen und kurzes Verweilen, Suchen und wieder Verlieren. Rastloses Durchkreuzen der Atlanten, Fädenspannen über die Weltkarte.
Eine Reise ist keine Geschichte. Geschichten erzählen keine Sache. Eine Geschichte hat einen Anfang, erzählt sich in sich schlüssig durch ihren Ablauf und ist irgendwann auch zu Ende. Aber ein Leben als Reise? Wo anfangen? Wo aufhören? Hier auf dieser Insel? Das ist nicht das Ende. Ich falle nicht tot um. Hab gar keine Lust dazu, nicht hier, wo ich mich im Wasser so wohl fühle, wenn ich darin gleite, wie ein Fisch. Mein Sternzeichen, übrigens. Jetzt habe ich doch etwas erzählt. Dass meine Geburtssonne in den Fischen steht; da ich Ende Februar geboren bin. Mein Aszendent ist der Skorpion, was meine astrologisch interessierten Freunde stets in Entzücken versetzt, weil es (fast) alles erklärt. Ich weiß bis heute nichts damit anzufangen.
Ich schwimme im Meer, das sehr ruhig ist, kurz nach Sonnenaufgang. Ich lasse mich treiben, liege mit geschlossenen Augen bewegungslos am Rücken und denke: ich kann doch nie ein Buch schreiben. Bücher sind mir einfach zu lang. Fünfhundert-Seiten-Romane konnte ich noch nie ausstehen. Selbst habe ich auch nie einen Text geschrieben, der über ein Dutzend Seiten lang war. Gedichte, ja. Die sind so schön verdichtet, wie Bilder. Gemalt habe ich seit dem Gymnasium nicht mehr, obwohl ich damals Freude daran hatte. Meine Bilder aus der Schulzeit liegen alle seit Jahren unberührt in irgendeiner Schachtel. Auch meine Gedichte. Keine besonderen, ehrlich gesagt. Jugendliche Romantik. Jeder schreibt solche Gedichte, solange er jung ist – jung und verliebt, vielleicht.
Was ich hier mache, ist so fragmentarisch, dass ich damit wohl auch schon nach zehn Seiten aufhören werde. Es hat keinen Faden, zumindest nicht wirklich. Topographisch vielleicht. Von Ort zu Ort; und auch in der Zeit. Hat sich Süd-Ost-Asien in zehn Jahren verändert? Habe ich mich verändert? Oder sitzt immer noch derselbe lonely traveller auf den Veranden jener Hütten, die vor zehn Jahren auch schon da standen? Sind die Sehnsüchte noch dieselben? Warum bin ich eine Reise? Was macht mich so unbeständig, dass ich es nicht länger als ein halbes Jahr in derselben Stadt aushalte?
Ich sehe schon, das wird kein Buch. Viel zu viele Fragen, statt Antworten zu liefern. Würden Sie sich Antworten aus einem Buch erwarten? Dafür bin ich zu jung, wird sogleich manch Altvorderer einwenden, der sein Lebtag nicht aus Europa rausgekommen ist (vielleicht einmal einen Urlaub auf Gran Canaria verbracht hat). Die Antworten habe ich schon hinter mir, denke ich manchmal, die Fragen haben sie wieder überholt, denke ich, wenn ich mich alt fühle, alt und müde. So wie ich jetzt aufs Meer hinausschaue, fällt mir ein Freund aus Sydney ein. Der sagte, wenn er einmal so müde ist, fährt er mit seiner Yacht einfach aufs Meer hinaus. Er will sie so lange hinaussteuern, bis das Boot entweder zu viel Wasser genommen hat (der Segler ist bereits in seinem Alter: Sechzig), oder nein; Selbstmord ist kein Thema für mich. Nicht einmal theoretisch.
Ab und zu kommen Menschen unten am Weg vorbei, hören die alte ‚Remington‘ klappern, und denken sich wohl: Das muß ein Schriftsteller sein! Scheiß Schreibmaschine, denke ich, warum habe ich keinen Laptop auf den Knien. Fast geräuschlos, edierbar – und mir wird übel bei der Vorstellung, das Ganze nochmals abzutippen (jetzt, wo ich’s allerdings tue, find ich’s gar nicht mehr so schlecht). Schreibmaschinen waren früher sicher eine tolle Erfindung, gehören aber schon wieder der Vergangenheit an. So wie ich und meine Reise; auch wenn sie noch lange nicht zu Ende geht. Wenn ich Schriftsteller werden will, werde ich mir doch irgendwann einen Laptop kaufen. (Obwohl mir das z.B. hier nicht lange von Nutzen sein würde, weil’s keinen Strom gibt, um die Akkus aufzuladen. Auch und gerade technischer Fortschritt hat eben seine Grenzen).
Somit habe ich mir eine gute Ausrede zurechtgelegt, doch kein Buch schreiben zu müssen. Ohne Laptop ist’s viel zu mühsam, Hunderte Seiten abzuschreiben, X-mal zu bearbeiten. Vielleicht kann ich ja ein kürzeres Manuskript auch gerade noch einem Zeitschriftenverleger unterjubeln. Denn im Grunde will jedes Stück Text gelesen sein; wozu würde es sonst geschrieben werden? Ich brauch’s nicht als Therapie; also verkaufen, das Stück! Dabei ist das nicht einfach. Deutschsprachige Zeitschriften haben üblicherweise kaum Geld und zahlen miserable oder auch gar keine Honorare. In Australien bekäme ich $100.00 für tausend Worte (ein Grund, wortreich zu schreiben: bis jetzt sind’s immerhin 2100 Wörter = $210.00, das ist schon mehr als nur eine warme Mahlzeit). Dann müßte ich das Ganze aber erst übersetzen, da ich wieder in meiner Muttersprache schreibe: Deutsch. Zwar hat mein Vater auch deutsch gesprochen; trotzdem würden Sie es komisch finden, wenn ich Deutsch meine Mutter- und Vatersprache nennen würde. Egal.
Am besten vergesse ich gleich, ob ich nun ein Buch oder einen Magazintext machen will und klappere einfach weiter, solange ich Lust dazu habe (und Papier da ist). Noch sind ein Dutzend Tage vor mir; Tage, die ich wohl nicht gänzlich mit Lesen, auf-den-Horizont-starren und Schwimmen zubringen werde. Tage, die mir gut tun, auch wenn der Schweiß in Perlenströmen aufs Papier unter mir tropft. Ich liebe Hitze. Ob tropisch – oder in der Sauna. Jetzt wissen Sie schon mehr von mir: Büchermacher, Fisch im Sternzeichen und Saunagänger. Bin gespannt, was noch alles aus mir rauszulocken ist, aus meiner Person, meinem Bild. Machen Sie sich ein Bild?
In zwei aus zwanzig Reise-Jahren hat mich diese ‚Remington‘ begleitet – und erst dieser Stop-Over hat mich dazu verführt, einmal mehr als Briefe damit zu schreiben. Vor zehn Jahren habe ich handschriftlich Reisetagebücher angelegt; aber das wissen Sie bereits. Die werde ich in zehn Jahren wieder lesen. Im Moment weiß ich noch, was drin steht. Nicht gerade jener Stoff, aus dem Thriller geschnitzt werden. Wollten Sie lieber sowas lesen? Einen Thriller wie die ‚Bourne-Identity‘? Hab ich unlängst im Fernsehen angeschaut, sehr spannend, sowas. Aber eine ganz normale Reise ist es auch, auf ihre Art.
Untertreibe ich da nicht, mein Unterwegs-sein eine ganz normale Reise zu nennen? Meine Kameraden aus der Schule und die Studienkollegen von der Uni würden das nicht begreifen: Jeder einen gutbezahlten Job, Familie und Bierbauch. In spätestens zehn Jahren werden sie in ihre Midlife-Crisis kommen und ich werde immer noch unterwegs sein. Dafür habe ich meine Krisen schön gleichmäßig über mein Leben verteilt. Die Sinnfrage und derlei Zeug. Sie wissen ja.
Unruhe. Graz als Geburtsstadt ist eine guter Ausgangsort. Keiner hält es dort lange aus, also beginnt man zu reisen. Andere übersiedeln nur; ich bin über viele Jahre zunächst immer wieder zurückgekehrt, um wieder fortzugehen. Ein Spiel, mehr nicht. Zwischendurch waren in Graz auch noch einige Jahre einer gar nicht so üblen Ehe. Und die Studien. Nachdem beides vorüber war, gab’s auch keinen Grund mehr, zurückzukehren. Nächstbeste Station innerhalb Österreichs war Wien: eine gute Stadt zum Leben, man kann dort sogar ohne Auto sein, obwohl ich mir den Luxus bis zuletzt geleistet habe (obwohl ich ihn mir nicht mehr leisten kann – und jetzt ist es ja auch verkauft). Gut, aber auch das ist ‚Inland‘. Das hat enge Grenzen.
Diese Grenzen habe ich oft überwunden, meine Reisepässe bezeugen das, aber lange nicht verleugnet. Bis vor gut zwei Jahren war ich zwar ständig monatelang immer irgendwo im Ausland, aber nie richtiger ‚Auslandsösterreicher‘. Jetzt bin ich Australier. Das war mir am nächsten, weil man nur ein „a“ und ein „l“ einzufügen braucht. Glauben Sie mir nicht? Stimmt aber. Außerdem ist dort Sommer, wenn man in der nördlichen Hemisphäre im Winter wegfliegt. Und Känguruhs und Koalas gibt’s dort auch. Die sehen genauso niedlich aus, wie auf den Bildern, die Sie kennen.
Heute ist kein guter Tag, um einen Text wie diesen fortzusetzen. Ich beginne zu schwätzen. Also trinke ich lieber noch einen Mehkong auf der Veranda und höre den Geckos zu. Oder gehe ins Gasthaus und schwätze mit den Reisenden (nicht viele hier, in der Nebensaison). Es bleibt die Hoffnung, dass morgen ein literarischer Anschlag in meine Finger fährt. Nur die Hoffnung nie aufgeben! Endlich ein guter Rat
Letzte Nacht hat mich eine Maus besucht. Nicht, was Sie vielleicht denken. Eine mit vier Beinen und einem grauen Schwänzchen. Irgendwie hat das Kratzen an meiner Haut (unter dem dünnen Leinenschlafsack) nicht in meinen Traum gepaßt, und ich bin erschrocken aufgesprungen und habe diese kleine Maus herausgeschüttelt. Erst hatte ich in der Dunkelheit gar keine Ahnung, was das war Licht gibt es keines in der Nacht (man läßt Stromgeneratoren nur für einige Abendstunden laufen) die Maus und ich, wir waren sicherlich beide gleichermaßen entsetzt. Dabei ist mir François Villon in den Sinn gekommen, mit seiner Mäusefrau. Zwar war die Maus immer noch innerhalb des Mosquitonetzes, aber was hätte ich tun sollen, außer wieder einzuschlafen und von Mäusefrauen weiterzuträumen.
Vor zehn Jahren hat mir eine Redakteurin, die meine Gedichte gelesen hatte, vorgeschlagen, ich solle doch lieber über meine Reisen schreiben. Das gäbe besseren Stoff her, da ich bereits damals schon an Orten war, die die meisten Menschen in ihrem Leben nie zu sehen bekommen. Sie hätte ja durchaus recht haben können, doch ich war sicher, dass das andere Reiseschriftsteller schon ausreichend getan haben. Als Bub habe ich „In 80 Tagen um die Welt“ gelesen – und später dieselbe Reise nachvollzogen. Wozu also Literatur wieder-schreiben? Eine Foto-Reportage für eine Tageszeitung habe ich daraus ohnehin gemacht.
Wozu überhaupt schreiben? Eine jener Fragen, die niemals zu oft gestellt werden können. Jedesmal nach der Frankfurter Buchmesse habe ich mich das wieder gefragt, bei all diesen Millionen Büchern. Wer soll denn das lesen? Wie soll man daraus das Lesbare herausdestillieren? Alles und jedes ist doch irgendwann schon von irgendwem gedacht und aufgeschrieben worden. Was wäre das Neue daran, meine Reise zu erzählen? Entdecken Sie etwas Neues? Habe ich in den bisherigen Abschnitten schon von meiner Reise erzählt? Wolfgang Hermann schickt mir Briefe nach Sydney und erzählt darin von seinen Geschichten. Auch ich habe solche Geschichten im Kopf, im Leben; wozu aber aufschreiben, wenn er und andere das ohnedies tun und publizieren? Könnte ich es eben nur auch, oder besser? Sehr fraglich. Was meinen Sie?
Heute morgen hat mich eine Schottin nach meinem Lieblingsland gefragt. Nach langem Nachdenken habe ich geantwortet: Die Welt. Das ist es. Nicht politisch Umgrenztes oder einzelne Kulturkreise. Ich sehe die Welt als ein Ganzes und atme erst durch ihre Vielheit. Hautfarbe, Bruttonationalprodukt oder Geschichte sind nicht so ausschlaggebend wie das Lächeln eines einzigen Menschen, der damit vom Fremden zum Freund wird; selbst in einer flüchtigen Bekanntschaft. Soll mir einer erzählen, er könne in den Krieg ziehen gegen Menschen, die er alle kennt und zu Freunden gemacht hat, bloß weil einigen machthungrigen Politikern und geldgierigen Wirtschaftsbossen und prestigesüchtigen Generälen danach ist, ihren Einfluß und ihr Bankkonto und ihre Macht weiter zu vergrößern. Aber: gerade war Krieg im Golf und eine Menge Menschen konnten aufeinander losballern und davor war irgendwo Krieg und es wird immer wieder irgendwo Krieg geben. Die Welt hat ihre dunkle Seite.
Ich habe den Kriegsdienst schon bald nach der Matura verweigert. Habe stattdessen für das Rote Kreuz Rettungsautos gefahren; überzeugt davon, damit etwas Sinnvolles für die Menschen zu tun. Nun wissen Sie schon wieder ein kleines Stück mehr von mir. Dies ist ein Text über das Innehalten auf einer Reise. Aber da ich diese Reise bin, ist es ein Text über mich. Interessiert Sie das immer noch? Ja? Erstaunlich.
Ein Österreicher, der in Australien lebt. Davon gibt’s einige. Einer, der erst dreiunddreißig ist, und schon mit seinem ersten Buch im australischen Fernsehen war, das ist seltener. Ist erst zwei Wochen her, dass ich mit dem Fernsehteam im State Theatre war, wo die den Beitrag für The Book Show abgedreht haben. Ging diese Woche auf Sendung. Werde mir später das Videotape anschauen. (Werden Sie mir Eitelkeit unterstellen?) Technik ist auch zu etwas nütze. So wie ein Laptop, der mir immer mehr abgeht. Mit dieser ‚Remington‘ auf den Knien komme ich mir bereits vor, wie ein Relikt aus der Vergangenheit.
Fällt Ihnen auf, dass ich ganz kurze Sätze schreibe? Früher gingen die noch über ganze Seiten. Das ist nicht ein zu-Herzen-nehmen der Empfehlung für Kronen-Zeitung Journalisten, sondern kommt daher, dass ich bereits in einem deutsch-englischen Gemisch denke. Manche Redewendungen übersetze ich mir bereits zurück. Mit den Jahren werde ich wahrscheinlich Deutsch zunehmend verlernen und Englisch auch nie richtig können. Dafür gibt’s lebende Beispiele. Ein Drama? Ich weiß nicht.
So wichtig ist ja nichts Geschriebenes. Ein Zitat von Peter Pessl, das gut zu diesem Absatz paßt. Ich könnte es ja so machen, wie Lucas Cejpek in Diebsgut, und einfach Zitate zusammenstehlen. Würden Sie es merken? Da ich aber eingangs schon die Behauptung aufgestellt habe, dass alles schon einmal geschrieben worden ist, wird auch dieser Text sicherlich eine Ansammlung von Diebsgut. Unwissentlich, allerdings. Und wenn schon, zitiere ich nicht Goethe, Shakespeare oder Miller, sondern meine Ex-Frau, Pessl oder Cejpek. Sollten Sie kennen.
Wenn ich jetzt am Macintosh sitzen würde, wüßte ich, ob ich schon über die 2000-Worte-Barriere bin (da ich jetzt beim Abtippen daran sitze, weiß ich es: 3479 gezählte Worte) und damit, ob es bald an der Zeit ist, entweder zu einem Ende zu kommen, oder erst richtig loszulegen, mit der Reise. Einer Reise in zwanzig Jahren, mit ungezählten Stationen. Wollen Sie wissen, wie viele Länder ich gesehen habe? Ich weiß es selbst nicht, mit dem fünfzigsten Häkchen habe ich zu zählen aufgehört (wie auch bei den Geliebten). Rein rechnerisch noch nicht einmal die Hälfte der Staaten dieser Erde (und ein ridiküler Prozentsatz der weiblichen Weltbevölkerung). Wozu auch zählen. Mit den Flügen habe ich auch bei fünfzig aufgehört. Fünfzig Gepäckanhänger mit allen möglichen Destinationen hängen in dem Platz in Graz, der zwar mein Eigen ist, den ich aber kaum mehr zu sehen bekomme. Graz existiert nur noch als eine Postleitzahl: A-8045.
Dennoch war ich verdammt lange in dieser Stadt, die mir nur durch die vielen Aus-Reisen erträglich blieb. Dennoch nicht zu lange. Gerade eben bis zum Grenzwert. Peter Glaser nennt sie die Stadt, in der die Schriftsteller für den Export hergestellt werden. Er selbst lebt in Hamburg. Alle, denen lokale Berühmtheit auf die Dauer nicht genügt, verlassen die Stadt. In Berlin oder Wien unbekannt zu sein, ist immer noch besser. Ich konnte da gar nicht weit genug weg kommen, auf die andere Seite der Welt, Down Under, wo Freiheit noch wörtlich aufgefasst wird, wo man unkomplizierter miteinander umgeht. Ohne ein ‚Sehr geehrter Herr Ministerialrat‘ und so Zeugs. Sie kennen das ja.
Nein, ich werde nichts schreiben über New York oder Brasilia, die Karibik oder Hawaii. Schauen Sie sich das selbst einmal an. Machen Sie sich Ihr eigenes Bild. Ich habe schon öfters Bekannte enttäuscht, mit meinen ‚Calcutta ist großartig‘-Reden und mußte mir danach anhören ‚Das ist aber eine schmutzige Stadt‘
Apropos Bilder: Vor einem Jahrzehnt habe ich mich noch mit zwei Kamera-Gehäusen, einem halben Dutzend Objektiven und allerlei Foto-Zubehör abgeschleppt; vor einigen Jahren nur mehr mit einer Kompaktkamera, nun bin ich frei von all diesem Abbildungs-Ballast. Dafür sehe ich immer mehr Nikon’s und Olympus‘ von den Schultern der Thais baumeln. Mindestens ein 300er Zoom-Tele-Rohr daran. Times are changing. And say ‚cheese‘!
Worüber sich vielleicht zu schreiben lohnen würde, sind die Veränderungen. Jene, die man selbst vollzieht; und jene, die zu beobachten sind. Bangkok anfang der 80er Jahre und Bangkok in den 90ern. Oder Bombay. Oder Singapore. Dort ist kein alter Stein auf dem anderen geblieben. Sogar das berühmte Raffles ist unter die Bauhämmer geraten, mitsamt der Somerset Maugham-Romantik. Die kleine chinesische Pension, in der ich früher abgestiegen bin, gibt’s auch nicht mehr. In dieser Straße kratzt nun Glas und Metall an den Wolken. Waren Sie vor 10 Jahren in Singapore oder Hong Kong? Nein? Sie würden es kaum wiedererkennen.
Ich lese Steinbeck’s The Grapes of Wrath (wie haben die das übersetzt, ‚Die Früchte des Zorns‘?) und denke dabei an jene Menschen, die Tausende Meilen nach Kalifornien reisen mußten, weil man sie mit der industriellen Revolution um ihre bäuerliche Heimat gebracht hat. Heimat waren ihnen staubige Baumwollfelder und karges Brot unter einfachsten Lebensbedingungen, bis den Banken all das Land gehörte und sie fort mußten, in den Westen. Australische Aborigines konnten das nicht verstehen, wie die Weißen nur Land besitzen wollten, wo es doch allen Menschen ohnedies gehörte. Heimat war gerade dort, wo Wasser im Billabong war und etwas Getier zur Jagd. Nomaden der Steinzeit. Auch heute, in diesem Jahrhundert, gibt es wieder Nomaden: ich bin einer davon. Heimatlose, Entwurzelte. Ich brauche kein Land zu besitzen, weil mir ohnedies die Welt gehört und niemand kann es in den Tod mitnehmen. Sehr vereinfacht, das Ganze, aber es kommt schon hin. Ein Nomade des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, der nur die Rücken der Pferde mit den großen silbernen Vögeln vertauscht hat, die mit Lärm und Gestank die Lüfte zerschneiden.
Im Grunde liebe ich das einfache Leben. Letztes Jahr habe ich Monate im australischen Outback verbracht. Den Himmel als Zelt in den Nächten am Dach des Land-Cruisers. Dennoch: einige Dinge des technischen Zeitalters brauche ich einfach. Macintosh Computer, Anrufbeantworter, Kopiergeräte, Faxmaschinen. Was noch? Einen Kühlschrank (es geht nichts über ein kühles Bier im Schatten eines Gumtrees). Das habe ich davon. Jetzt denke ich an ein eiskaltes Bier und schwitze über der Schreibmaschine und es ist weit und breit keines zu haben. Da hab ich mir schön was eingebrockt.
Ich geh schwimmen. Das kühlt auch. Mein Körper bekommt langsam wieder eine goldbraune Tönung. Zwar komme ich geradewegs aus dem Sommer der südlichen Hemisphäre, bin aber dabei ziemlich blaß geblieben. Ein einziges Mal am Strand in Sydney, zu Ostern Bushwalking in den Blue Mountains und zwei, drei Mal segeln. Und etwas Gartenarbeit. Die meiste Zeit dennoch in den kühlen vier Wänden des Hauses an der Northshore. Arbeiten. Zwei weitere australische Bücher sind in Vorbereitung: experimentelle Texte (die ich auch mitübersetze) und ein Band Gedichte. Wird kaum einer kaufen, das kenne ich schon; und Geld ist auch kaum da. Dennoch. Auch in Wien wartet Buchproduktion auf mich. All die Literatur auf schöne Seiten zu drucken und zu binden, ist verdammt teuer. Und ich habe kein Geld mehr.
Lange Zeit habe ich mich vom Wasser treiben lassen, bin ohne mich zu bewegen am Türkisblau gelegen, Augen geschlossen. Dabei habe ich vergessen können, dass Geld diese Welt bewegt. Alles nicht so wichtig, solange die Natur in Ordnung ist. Im Busch habe ich einen Aborigine gefragt, warum das Wetter so komische Sachen macht. Darauf hat er nur gemeint: Ihr Whitefellers müßt das eigentlich wissen. Ihr macht ja das Klima kaputt. Darauf blieb nur betroffenes Schweigen. Wir machen ja wirklich die Natur kaputt. Jeder auf der Welt trägt sein Schärflein dazu bei. Jeder. Auch in diesem Paradies. Sie müßten nur einmal hinter die Hütten sehen. Der Dschungel deckt nicht alles gleich zu.
Hier hat ein langsamer, sanfter Regen eingesetzt. Ich bin zurück an Land geschwommen und habe mich nackt auf eine Matte gelegt. Die Tropfen haben mir das Salz vom Körper geleckt; jeden einzelnen habe ich auf der Haut gespürt. Die heiße Erde hat zu dampfen begonnen. Das Blau des Himmels ist einem dunklen Grau gewichen, der Horizont setzt sich schärfer ab. Das Meer ist dunkler und unscharfer geworden. Die Tropfen tanzen und springen von der unruhigen Oberfläche zurück. Ich beobachte, dass die meisten Badenden in ihre Hütten flüchten; auch ich gehe nun unter mein Dach auf der Veranda – und während ich auf der Schreibmaschine klappere, nimmt der Regen ebenso langsam wieder ab, wie er gekommen ist.
Meine Ex-Frau ist Schriftstellerin. Eine richtige. Das wissen Sie wahrscheinlich ohnedies. Ihr drittes Buch wird dieses Jahr erscheinen. Einmal waren auch wir gemeinsam hier auf dieser Insel, vor vielen Jahren. Die Hütte, die wir damals gemietet hatten, steht immer noch. Später habe ich sie einmal mit einer Australierin geteilt. Mit ihr hatte ich keine Affäre. Auch nicht, als ich sie später einmal in Melbourne wieder getroffen habe. Nettes Mädchen, aber warum erwähne ich das? Meine Ex-Frau hat über diese Insel nichts geschrieben, soweit ich weiß. So ist das.
Den Abend habe ich in französisch-amerikanischer Gesellschaft verbracht. Tintenfisch gegessen und Cola getrunken. Währenddessen wurden Reiseerfahrungen ausgetauscht. Die Unterschiede beim Überqueren einer Straße in Tokio, New York und Wien, zum Beispiel. Sehr aufschlußreich, das Ganze. Und unterhaltsam. Zwar sind dabei keine weltbewegenden Erkenntnisse herausgekommen, aber ein netter Abend. Später wollten wir noch Karten spielen, waren aber zu faul, um sie aus der Hütte zu holen. Morgen esse ich im Restaurant in der benachbarten Bucht. Dort ist das Menu umfangreicher. Und außerdem gibt’s neue Gesichter. Noch was: Heute ist Vollmond. (Vor Jahren habe ich an dieser Stelle eine völlige Mondfinsternis miterleben dürfen, wahrlich ein Ereignis). Aber auch das beflügelt mich diesmal nicht sonderlich. Eine Lethargie hat sich breitgemacht. Ich genieße es, völlig auszuschalten und ruhig zu werden, zufrieden mit mir selbst.
Wir schreiben das Jahr 2534. Nein, keine Angst, ich versuche mich nicht plötzlich in Science Fiction. Ich füge diese Tatsache nur ein, weil ich mich über die katholisch-weiße Großkotzigkeit ärgere, die Jahresrechnung mit der fiktiven Geburt Christi zu beginnen. Ich will auch nicht sagen, dass der buddhistische Kalender mehr Berechtigung hat, es ist nur, dass er von großen Teilen der Welt gar nicht wahrgenommen wird. Wenn mich ein Beamter in Mitteleuropa nach meinem Geburtsjahr fragt, und meine Antwort lautet: 2501, läßt er mich glatt in die Klapsmühle einweisen. Wenn es nicht so verdammt viel Arbeit wäre, Millionen Geschichtsbücher, Lexika und Milliarden Dokumente umzuschreiben, würde ich darauf bestehen, wir alle sollten wieder mit Null beginnen. Nach der kommenden Apokalypse wäre Gelegenheit dazu. Mit einem Jahr, in dem endlich alle Menschen erkannt haben, dass wir nur auf einem Planeten, dem Raumschiff Erde, gemeinsam leben dessen Raum und Ressourcen wir gemeinsam verwalten, erhalten und redlich teilen müssen.
Es gibt viele Arten des Reisens. Hat man einmal damit begonnen, begegnet man jeder einzelnen und legt sich aus dieser Summe an Eindrücken seine eigene Methode zurecht. Der Beginnen hat immer zwei, drei kluge Handbücher in der Tasche. South-East-Asia on a Shoe-String, oder ähnliches. Komischerweise von einem Verlag, der sich Lonely Planet nennt. So einsam ist unser Planet aber nirgends mehr. Speziell entlang dieser tief eingegrabenen Traveller Routen ist man unter sich. In allen Rucksäcken dieselben Handbücher, dieselben Empfehlungen. Eine kleine Welt umgibt einen: ein Kanadier, eine Deutsche, das Paar aus England; sie alle haben das Buch gelesen: How to get there and where to stay. Nach einigen Jahren wirft man diese Bücher über Bord und verliert sich wieder im Unerforschten. Auf eigene Faust.
Dann entdeckt man die Welt, wie sie ist – und präsentiert auch einmal seine Master Card, um einen Tag Luxus zu genießen: ein heißes Bad, den Kühlschrank im klimatisierten Zimmer, einen Pool vorm Haus oder am Dach. Nach Monaten billiger Absteigen mit Cockroaches und stinkenden Toiletten eine feine Sache. Dort trifft man dann eine andere Spezies Reisender. Jene, die den abenteuerlichen Teil der Welt gar nicht kennen (die Angst vor Unvorhersehbarem haben), die vom Airport abgeholt und in die Sicherheit solcher Hotels verfrachtet werden. Anfangs bedauert man die Neckermann-Reisephilosophie: die sehen doch nichts als die Scheinwelt der Touristen-Ressorts. Die wissen gar nicht, dass ein paar Kilometer hinter den weiß gestrichenen Mauern Elend ist und Hunger und Krankheit. Die sind alle gegen alles geimpft – und was übrig bleibt, daheim, sind die Gespräche über das Essen und das Bier und die Bilder vom Papa mit rosa Bäuchlein. Man kann es sich eben leisten, statt an die Adria nun in die Karibik zu jetten. An der Mentalität ändert sich dadurch nichts. Man besucht einschlägige Massagesalons und erzählt am Stammtisch, natürlich wenn die Gattin nicht dabei ist, wie man es diesen exotischen Mädchen besorgt hat.
Ein andere extreme Spezies sind die Mini-Budget-Traveller. Die Überleber. Die schaffen es, sich mit 50 Dollar im Monat durch Indien zu schnorren – und sind auch noch stolz darauf, dass sie es so weit geschafft haben. Dass sie dabei meist ärmere Mitmenschen ausbeuten, die nicht die Sicherheit von Konten in DM oder Schweizer Franken in der Heimat haben, stört sie kaum. Es ist ein Sport, billiges noch billiger zu bekommen, Einladungen schamlos zu verlängern und notfalls sogar Mitreisende anzubetteln. Und im Kaffeehaus beschämen sie die sechs-Wochen-Reisenden mit einem nonchalanten: ‚Ich bin ja schon sechs Monate unterwegs‘.
Die schönste Art zu reisen ist aber ein steter Wechsel. Arbeit und Faulenzen. Pleite sein und Luxus. Kurze, rasch wechselnde Aufenthalte gegen lange Perioden auszutauschen. Menschen kennenzulernen. Immer irgendwo auch eine Zeitlang zu leben: Miete zahlen, in den Supermarkt einkaufen gehen, einen kleinen Haushalt führen. Nicht nur in Restaurants essen zu gehen, sondern selbst zu kochen, wie jene Leute, die dort leben. So lernt man sie kennen so lernt man sich kennen. Ich habe es nicht immer so gehalten, oft war ich ruhelos unterwegs. Ich habe es aber gelernt, erfahren, selbst erfahren. Und es war OK. Mit dreiundzwanzig war ich am richtigen Weg. Und ich habe weiter an mir gearbeitet, mich geöffnet. Das Fremde nicht zu einer bloßen Attraktion werden lassen, sondern die Mosaiksteine zu einem Ganzen zusammengebaut: zu unserem blauen Planeten.
Sehen Sie, jetzt werde ich schon wieder schwärmerisch (oder kitschig?). Dabei ist das ja alles ein Schmarrn, blauer Planet und so. Nach dem Exxon-Oilspill. Und den jüngsten Katastrophen im Mittelmeer. Wir versauen diesen blauen Planeten zusehends. Und wenn es auch nur das Silberpapier einer Zigarettenpackung ist, das man achtlos fallen läßt. Gehen Sie ins Hinterland dieser Insel, wenn Sie gelegentlich hierherkommen. Eine einzige Müllkippe. Man wartet, dass der Dschungel darüberwächst und die Schweinerei abdeckt. Bloß: Abdecken ist nicht aus der Welt schaffen. Aber im Abdecken sind sie gut, die Menschen. Make-Up auflegen. Was man nicht sieht, ist nicht da. Zu begreifen, dass es über die Luft und das Wasser und die Nahrung wieder in unsere Körper zurückkommt, erfordert abstraktes Vorstellungsvermögen. Und damit ist’s offenbar schlecht bestellt.
Eine Woche bin ich nun hier auf der Insel und gerade solange habe ich gebraucht, um richtig auszuspannen, mich zu ent-spannen. Jetzt werde ich nicht mehr viel aufschreiben. Werde die kommende Woche einfach nur am Strand und im Meer und in der Hütte sein, Bücher zu Ende lesen und dabei vielleicht an die Bücher denken, die ich noch vor mir habe. Heute habe ich Hunderte Seiten Steinbeck gelesen, so etwas kann ich im normalen Leben gar nicht. Hat auch eine Woche gedauert, bis ich mich so richtig eingelesen hatte. Und wie entspannt ich bin! Die Sonne geht gerade unter, als ich diesen Absatz tippe und ich fühle guten Appetit in mir wachsen auf ein Dinner am Strand. Jetzt wird’s Zeit, den Urlaub zu beginnen.
Urlaub: ein komisches Wort. Ich erinnere eine Geschichte der Pichelsteiner, Comics einer Sippe aus der Steinzeit, die ich als Kind gerne gelesen habe. Die sind einmal ausgezogen, das Ur-Laub zu suchen, das ihnen vom weisen Guru gegen den Alltags-Streß verschrieben wurde. Dabei haben sie so viel Spaß gehabt, waren so relaxed, dass sie diese Art des Verreisens Urlaub nannten. Ur-Laub zu finden, ist heutzutage nicht mehr so einfach. Zu viele Menschen strömen überallhin aus, um es zu suchen. Gelingen tut’s den wenigsten. Aber man ist halt bestrebt, die Suche nicht so schnell aufzugeben. Irgendwo muß es doch noch Ur-Laub geben!
Ur-Laub. Das wär’s. Seit Tausenden Jahren suchen wir danach, wie nach dem Stein der Weisen, oder nach der Rezeptur der Alchimisten, wie Gold herzustellen sei. Oder nach dem unendlichen Leben oder was halt sonst gerade erstrebenswert scheint, in Mode ist. Sonnenbräune oder noble Blässe, Shirts aus Seide oder Hawaii-Hemden, Elfenbein aus Afrika oder Hängematten aus Mexiko. Immer aber versuchen wir, etwas Ur-Laub aus dem Urlaub mitzubringen. Um ihn daheim zu verlängern, festzuhalten, daran erinnert zu werden. Die gebräunte Haut wird schnell blasser, auch Hawaii-Hemden halten nicht ewig und sogar die Hängematte aus Mexiko reißt nach Jahren irgendwo ein und kann nicht mehr geflickt werden. Dann ist es wieder an der Zeit, neues Ur-Laub heimzuschleppen und immer wieder, und immer wieder.
So schließt sich der Kreis. Ur-Laub wird heimgebracht und verwelkt und neues wird geholt. Manchmal nur alle zwei Jahre ein paar Wochen Suche. Für manch andere wie für mich eine Lebensaufgabe. Beruf: Selbständiger Ur-Laub-Sucher. Niemand muß mir den Auftrag erteilen, in die Welt zu gehen, um Ur-Laub zu suchen. Es zieht mich ganz von selbst. Itchy feet. Und dann hat man diese Krankheit Reisefieber. Und man wird sie nie mehr los. Und man paßt sich ihr an; man stellt sein Leben und seinen Beruf und seine Beziehungen auf diese Krankheit ein. Eine Reise zu sein, wird ein Leben.
Nun geht mein Papiervorrat zu Ende. Ich habe auch keine Lust mehr, den Urlaub zu vertippen. Buch ist es keines geworden, aber geschwätzt habe ich genug. Jetzt werde ich mich einfach den Vorzügen dieses Stückchens Erde hingeben. Auf diesem Stop-Over. Ich verlasse Sie jetzt. Was werden Sie tun? Einmal will ich Sie noch beschwören: Reisen Sie! Reisen Sie jetzt! Suchen auch Sie Ur-Laub!
Und ich reinige die ‚Remington‘ sorgfältig, blase den Sand heraus, straffe das grau werdende Farbband und lasse ein letztes Mal den Deckel einschnappen. Ich packe sie in meinen Rucksack, und sie wird ihre Reise in Wien zu Ende geführt haben und bei ihrem Besitzer bleiben. Ich habe keinen Besitzer und meine Reise ist auch bestimmt noch lange nicht zu Ende.