Die Lemmingbucht
Eisig kalt pfeift der Wind durch die nördlich gelegene Bucht, die sich bei Leeka, einer kleinen Insel, die beinahe an Norwegen stößt, weit in das Nordmeer hineinzieht.
Die zwielichtigen Nebelgestalten, die übergroß aus der Bucht emporwachsen, schweben und umschlingen sich, werden vom fauchenden Nordwind hin und hergeschoben. Sie formen die seltsamsten Gebilde, um sich dann dampfend und rollend in die offene See zu ergießen.
Die frostigen Elemente schmiegen sich hier aneinander. Die gefrorene Luft, nicht einzuatmen, tänzelt auf der dünnen Eisschicht spitz zischend auf und ab.
Weit ab sind Schritte zu hören, und das Knirschen und Stöhnen, hervorgerufen durch das abwechselnde Aufsetzen des Körpergewichts, breitet sich eilend über die splitternde Schneedecke aus.
Die Frau, deren Füße in schweren, felligen Lederstiefeln stecken, scheint im dunklen Grauen des Morgens wie verloren. Ihre Hände bohren sich tief in die Taschen der filzigen braunen Jacke, die um die Taille von einem fettigen Lederband zusammengehalten wird. Um den Kopf windet sich dicker Wollstoff, der die Stirn mit einhüllt, sich dann an die Wangen preßt und in Form einer Kreuzschlinge die Kehle und den Hals umschließt.
Ein weicher schwerer Rock fällt bis auf die Stiefelränder, an denen sich der Saum durch die ständige Auf- und Abbewegung ihres Ganges bereits abgewetzt hat. Darunter, unter dem Rock, kratzen feste Strümpfe aus Schafwolle an den Beinen.
Wie tiefe, hohle Gruben nehmen sich ihre Wangen aus. Über ihren blanken Backenknochen lugen unter den Augenlidern zugezogene Pupillen hervor. Die Augen, deren Licht und Farbe erloschen sind – zwei stechende Punkte – blitzen katzenhaft auf.
Über ihr Gesicht, das von feinen faltigen Linien durchdrungen ist, huschen wehmütige Schatten, die ihrem bläßlichen Gesicht eine fast hochnäsige Noblesse verleihen. Ihr verbissener, fest verschlossener Mund zeugt von der nun unbeugsamen, erbosten und kämpferischen Natur ihres Wesens.
Hart kracht jetzt das Eis unter ihren Füßen, was als gläsernes Echo zurückgeworfen wird.
Nein, nur nicht stehenbleiben, weiter, immer weiter, drüben leuchten die Nebelgestalten, winken ihr zu, weiter, nur nicht zögern, rufen sie und bewegen sich auf sie zu. Sie nähern sich ihr, schmeicheln sich ihr entgegen. Ein fahriger Windstoß wirft sie dann zurück, bringt sie zum taumeln, und wie von einem Fausthieb getroffen sinken sie in ihrer Leibesmitte ein, zerzausen und stoben davon.
Sie beschleunigt ihren Schritt. Der Wind hebt von neuem an, fegt wie ein wild dröhnender Orkan über ihren Kopf hinweg, droht sie mitzureißen, es wird ihr unmöglich, sich noch auf den Beinen zu halten.
„Aber nein!“, sie darf nicht stürzen, sie darf in sich nicht für einen Moment lang nachgiebig werden oder sich einer Schwäche hingeben. „Aber nein!“, kurz zappeln ihre Arme hilflos herum, und während ihr Kopf vornüber gegen das Brustbein schlägt, stemmt sie sich bereits wieder gegen den scharf tosenden Sturm.
Plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, hält sie inne und starrt wie gelähmt auf das Bild, das hoch oben über ihren Augen auftaucht.
Sie sieht den riesigen weißen Adler, der inmitten seines Flügelschlages wie eingefroren verharrt. Dann, nach einem kurzen Augenblick, holen seine Schwingen weit aus, und die Flügel, deren Spannweite sich unermeßlich auszudehnen scheint, heben sich, wölben sich nach oben, um am Umkehrpunkt zu erlahmen. – Er bringt seinen Flügelschlag nicht mehr zu Ende und stürzt in endlose Tiefen. Aber – dank der erstarrten Haltung seiner ausgebreiteten Schwingen gleitet er dann das letzte Stück des Falls, um besänftigt auf einer wässerigen Oberfläche zu fanden.
Beißende Kälte dringt an ihre Haut und jetzt erst nimmt sie die Kälte wahr, von der sie umgeben ist, gleichzeitig ist es, als würde sie diese Kälte verbreiten. Die Vision des Adlers hat sie verwirrt, und sie ängstigt sich nun. Aber nein! Sie darf nicht stehenbleiben, nein, sie muß weiter, sie darf in sich nicht für einen Moment lang nachgiebig werden!
Ihr Keuchen wird nicht versiegen, laut und heiß pocht es gegen ihre Brust, während kühle Tränen an ihren Wangen hängenbleiben, um dort zu schimmernden kristallenen Perlen zu gefrieren.
Noch ehe der Tag anbricht, will sie auf der anderen Seite der Insel angelangt sein, sie will hinüber, an das andere Ende der Bucht, zu den Fjorden.
Die Lemminge halten dort drüben ihren Winterschlaf. Sie haben ihre pelzigen, mausartigen Körper aneinandergebettet und sobald das Eis zu schmelzen beginnt, werden ihre kleinen Körper zu zucken beginnen. Sie werden sich räkeln und langsam erwachen. Nach dem Erwachen werden sie mit ihren winzigen kralligen Pfoten durch das Fell streichen, sie werden ihre Ohren säubern und ihre Barthaare langziehen. Mit ihren kleinen stupsenden Nasen werden sie sich einen Weg aus ihren Winterbehausungen hinaus ins Freie suchen.
Sie ist seit gestern morgen unterwegs. Sie weiß nicht mehr, warum sie so plötzlich fort wollte, warum sie sich so hastig davonmachte. Gegen diese schmerzende, rufende Sehnsucht, von der sie einige Tage zuvor befallen wurde, die sie dazu zwang aufzubrechen, konnte sie sich nicht wehren.
Die Menschen im Dorf werden keine Ahnung haben, was sie davongetrieben hat, was sie aus der Enge ihres Lebens, ringend um Standhaftigkeit, aufgerüttelt hat, und was sie schließlich dazu brachte, in der kalten Nacht ihren Mann und ihr zwar bescheidenes, aber freundliches Haus zu verlassen.
Sie, die Zeit ihres Lebens eine von keiner großen Leidenschaft besessene Frau war, sie, die immer ihren Pflichten, gemäß ihrem Rang, den sie im Dorf einnahm, nachkam, wurde mit einer von ihr noch nie erlebten Wucht, von einer beklemmenden Agonie getroffen, die kein Zurück und keinen Ausweg kannte.
„Es gibt keinen Weg zurück, der Weg zurück ist weit!“
Das Bild des eisigen Schneeadlers ist längst verblaßt. Was hatte es auch für einen Sinn, sich noch länger darüber zu erschrecken oder sich mit Fragen über das Geschehene zu quälen?
Es würde sie nur behindern, es würde ihren Schritt verlangsamen und ihr Ziel in eine weite Entfernung rücken. Zum Schluß würde sie noch den Wunsch verspüren umzukehren, und dann wäre alles vergebens gewesen, der beschwerliche Weg umsonst zurückgelegt worden.
In dem kleinen Dorf, das sie gestern verlassen hat, würden sie alle mit neugierigen Blicken verfolgen, und kaum dass sie den neugierigen Blicken den Rücken zugekehrt hätte, würde ein wisperndes, bösartiges Getuschel hinter ihr einsetzen. Später dann würde sich das ganze Dorf ihr gegenüber in ein ausgrenzendes Schweigen hüllen, das sie mit jedem Tag mehr aus der Dorfgemeinschaft ausstoßen würde.
„Es gibt keinen Weg zurück, der Weg zurück ist versperrt!“
Bald wird das erste zarte Licht der Sonne den Tag bringen, sie wird den Morgen in einen kalten, milchigen Glanz kleiden. Sie muß sich beeilen, denn der hereinbrechende Tag ist hinter ihr her. – Sie will den Tag empfangen! – Stolz und ruhig wird sie sich ihm entgegenwerfen, und wenn ihr Atem am Verebben ist, wird dieser Tag ihr gehören, ihr ganz allein. Er wird sie zärtlich umfassen, und während die pralle Wintersonne aufsteigt, wird alles in ihrem goldenen, gleißenden Fluten erstrahlen.
Es wird sie niemand mehr stören können, sie wird am anderen Ende der Bucht angelangt sein, sie wird drüben bei den Fjorden sein. Selbst die Lemminge werden noch nicht aus ihrem Winterschlaf erwacht sein!